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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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Immaculata heute noch nicht geschafft, den Haushalt in Ordnung zu bringen, die Mädchen waren irgendwo draußen, Guerrino arbeitete eine zweite Schicht in der Fabrik. Aber das war diesem Mann ja egal, der da aus seinen deutschen Landen zu ihnen heruntergekommen war wie ein Krösus vom Thron zu seinen Untergebenen, der von Frauenstimmrecht und Gleichberechtigung und Impfungen schwadronierte, als ob das hier in Alzano Lombardo überhaupt je eine Rolle spielen würde, hier unten hatte man ganz andere Sorgen, wirkliche Sorgen, drahtseildicke Sorgen, steinschlagharte Sorgen, unerbittliche, aber davon konnte so ein feiner Dünkel, der sich hinter seinem maßlosen Endlosbart ja doch nur versteckt hielt, natürlich nichts wissen. Dieser Bart, die gestreifte Hose, der lange Rock mit den ausladenden Schößen, das grüne Tuch um seinen Hals und der vergoldete Zwicker zusammen mit der glänzenden Ledertasche und dem so gefürchteten Baderkoffer mit all den vielen Schreckensutensilien und dem wenig beruhigenden Deckelzettel – für alle Fälle auf der Innenseite angeleimt – darin, all dies entfernte den Studierten um Kontinente vom einfachen Arbeiter und Familienvater Serafino Senigaglia. So als stünden da noch immer Gebirge und Klüfte zwischen ihnen beiden, die nie zu überwinden wären. Und noch bevor der Arzt seine übliche Jeremiade zum Abschied anstimmen konnte, wie gewohnt über den Verfall der Sitten, über die unbewusst lebenden Familien, die vernachlässigten hygienischen Pflichten und was auch immer ihm hinter dieserschmalen engen Stirn an Ermahnungsgut noch hocken mochte, sagte ihm Serafino auch schon mit bestimmtem Ton »Grazie, e arrivederci« und komplimentierte den leicht überrumpelten Dr. Spinnenhirn aus seinem Haus hinaus.
    Serafino schaute ihm nicht nach. Er schloss behutsam die Tür und begab sich dann nach oben zu seiner Frau, um sie zu fragen, ob er irgendetwas Gutes für sie tun könne.

zweite Garnitur
    Ödenburg, 1894
    Wenn Ferenc es wollte, konnte er seinen Geist ganz eng machen. Er konnte, wie durch ein Fernglas schauend, immer nur einem winzig kleinen Teil seines Lebens Aufmerksamkeit schenken und alles andere ausblenden, so, als gehörte es zu einer anderen Welt, nicht zu seiner. Sein Blick glitt über seine Fingernägel: tadellos sauber. Sein Scheitel: perfekt. Eine Haarzunge links gekonnt zur Schläfe hin frisiert. Noch ein paar letzte Striche mit der Bartbürste, einer fast identischen Nachfertigung derer, die bei Kaiser Franz Josef zum Einsatz gelangte: feinste Silbermontur, monogrammisiert und verziert, an ihrem Griff gepunzt mit Halbmond und angedeuteter Krone, das rechte Objekt für eine Bartpflege mit Stil. Ferenc Schön trug einen üppigen, millimetergenau geschnittenen Backenbart, perfekte Kontur, wie sein Vorbild und bester Auftraggeber, der Potentat, Seine Kaiserliche Majestät Kaiser Franz Josef.
    In wenigen Momenten wäre es so weit, und er würde seine zweite Frau ehelichen, die schwarzhaarige, wohlgenährte, ochsenstarke und hochschwangere Anna Leopoldina Maltzahn. Er hatte sie früh aufzustehen angehalten, ungeachtet der Beschwerden, die sie offensichtlich hatte, ihren schweren Körper dem Schlaf zu entreißen und sich gerade und reglos vor ihn hinzusetzen, aber es war der Tag ihrer Hochzeit, da wollte er aus ihrem hüftlangen Zopf ein Opus schaffen, prächtig wie ein Gemälde sollte sie sein. Und zudem würde die Frisur von ihrem umständehalber ballonartigen Bauch ablenken. Es brauchte sich ja nicht jede undjeder gleich das Maul darüber zu zerreißen. Ferenc hasste Klatsch, war aber selber einer, der die Ohren fast ausschließlich dafür offenhielt und alles registrierte. Besonders zuwider war ihm, wenn er einen Gesprächsfetzen auffing, der seine Eltern, die schöne Alžbeta und den um so viel jüngeren František, betraf. Dass sich die beiden auch jetzt noch, mit weit über sechzig Jahren, die seine Mutter mit sich herumschleppte wie die vielfaltigen Stoffe ihrer Kleider, so unübersehbar herzeigen mussten, missfiel ihm aufs Höchste.
    Wer weiß, wie sie heute wieder antanzen würden; wenn das nur nicht zu peinlich wurde. Und trotz ihrer Gelenkschmerzen dieser stete Umgang mit seinem Sohn, Feri, als ob der mit seinen sechs Jahren überhaupt noch einen so engen Umgang mit der Großmutter gebraucht hätte. Er bekäme jetzt ja eine neue Mutter, dann würde endlich Ruhe sein. Und Omami und Opapi könnten sich vom öffentlichen Parkett zurückziehen und ihren Ruhestand

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