Die Ruhelosen
anstatt nur des einen eigentlichen Patienten im Hause Senigaglia vorfand, war ihm das mehr als peinlich. Es war eine regelrechte Schmach, wann immer er dem Deutschen auf der Straße begegnete. Ihm kam es so vor, als würde dieser ihn mit scheelem Blick beäugen, als wäre er überhaupt nicht verwundert, würde aus seiner Stirn plötzlich ein Frosch wachsen oder sich irgendeine andere Ungeheuerlichkeit begeben. Und ungeheuer war es ja, was Serafino widerfuhr, nur hätte erselbst am liebsten gewusst, wie er sich dieses permanent dräuenden Fluchs hätte entledigen können.
Auch heute Abend erschien der dottore mit diesem unaussprechlichen Namen, Wolfgang Spinnenhirn, den Serafino schon bei seiner ersten Begegnung nur mit größter Mühe von dem hingestreckten Kärtchen hatte ablesen können – mit dem Finger war er dabei den einzelnen Buchstaben nachgefahren, was ihn danach noch lange gewürgt hatte –, dieser Doktor also mit seinem gewohnt schiefen Lächeln im Gesicht kam, und Serafino versuchte das Unangenehme der Begegnung wegzustreifen, indem er sich etwas zusammenhangslos, aber überhöflich nach Spinnenhirns Frau erkundigte. Diese war eine wichtige Figur unter den Frauenrechtlerinnen, setzte sich für das Wahlrecht und so manches andere ein, was doch in den Händen der Männer ungleich sicherer war, wie Serafino fand, nur hätte er diesen Gedanken nie laut zu äußern gewagt, gerade er nicht, der selbst wie eine Frau seine Wehwehchen pflegte.
»Gut. Die Frauen marschieren voran, gewöhnen Sie sich besser an den Gedanken, dass sie in der Politik mitmischen werden, lieber Serafino. Es scheint mir oft, Frauen seien ohnehin die stärkeren Gemüter. Gerade auch bei Ihnen. Nun denn, wo ist denn Ihre cara moglie? Oben? Im Bett?«
Als Dr. Spinnenhirn ins Zimmer trat, hatte sich Immaculata bereits ihrer Oberkleider entledigt und wartete wie eine geduldig Gläubige darauf, dass er sie abhörte. Dr. Spinnenhirn rieb die Hände aneinander und legte dann die eine auf die Stirn der Entstellten, eine unter ihr Kinn. Er prüfte das Kopfgelenk zwischen Axis und Atlas, indem er Immaculatas Kopf nach allen vier Himmelsrichtungen abwinkelte. Dann bat er sie, den Kopf nun selber, ohne seine Hilfe, von hinten nach vorne und von rechts nach links zu bewegen. Sie verspürte keine Schmerzen dabei, nein.
»Ist etwas unterwegs?«
»Nein. Ich bin gerade in meiner Zeit des Monats.«
»Gut. Dann helfen Sie Ihrem Mann in den nächsten drei, vier Wochen mit der Hand.«
Serafino errötete, seine Frau aber fragte zielsicher: »Es sind die Feuchtblattern, nicht wahr?«
»Ja, Sie leiden unter den falschen Pocken. Vermutlich wird es nun ihre ganze Familie treffen, Guerrino, die Mädchen, Seraf…«
»Er hat die falschen Blattern schon als Kind durchgemacht. Ich erinnere mich noch gut an sein gesprenkeltes Gesicht.«
»Na ja, Sie wissen, Signora, das will bei Serafino nicht viel heißen, Ihr Gatte …« In Serafinos Kopf brodelte ein Vulkan, schnell trat er einen halben Schritt zurück in den Schatten des Gebälks.
»Was muss ich tun, dottore Espinneghirne?«
»Nun, man hätte sich impfen lassen können. Zahlreiche deutsche Fürstentümer und Reichsstädte lassen alle Säuglinge, alle Bewohnerinnen und Bewohner der Ländereien per Erlass impfen.« Bevor die erstaunte Immaculata etwas entgegnen konnte, fügte der Arzt friedfertiger hinzu: »Hüten Sie ein paar Tage lang das Bett. Bei einer lebhaften Beteiligung Ihrer Mundhöhle an Ihrem Krankheitszustand spülen Sie bitte täglich mit toskanischer Borsäurelösung«, leierte er hinunter, und dann schnell noch die Ermäßigung: »oder sonst halt mit Kamillentee. Fügen Sie jedoch unbedingt ein paar Tropfen Opiumtinktur bei. Wenn Sie in einer Woche den Drang dazu verspüren, nehmen Sie ein zwanzigminütiges Jodbad und machen sich anschließend Umschläge mit essigsaurer Tonerde. Mehr kann ich Ihnen eigentlich nicht empfehlen. Seien Sie schön brav, bitten Sie Ihren Mann um Geduld, mit Windpocken bei Schwangerschaft ist nicht zu spaßen, und lassen Sie mich in zwei, drei Wochen wissen, wie es Ihnen und den Kindern geht. D’accordo?«
»Si, dottore, d’accordo.«
»Va bene.« Doktor Spinnenhirn klappte seine Arzttasche zusammen und machte sich auf, das Haus der Senigaglias wieder zu verlassen. Als er die Stiegen herunterging und in der Küche anlangte, schaute er sich mit diesem mitleidigen Hundeblick um, der Serafino jedes Mal einen Schauer über den Rücken jagte, offenbar hatte es
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