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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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vergessen, und wer hätte sich sonst noch daran erinnern sollen? Als sein Sohn Guerrino so unvermittelt damit vor ihm stand, war er zuerst um Worte verlegen. Unbewusst nahm er den vergessenen Geruch von Paraffin wahr, und mit diesem Geruch zog die Erinnerung ein wie eine Parade bunter Bilder, die vor ihm defilierten, die Bürste für den Schweif, das Oel für den Glanz, das Sammeln und sorgfältige Auswählen der Kastanien für die Räder … das lachende Winken seines Onkels Alfonso, als er denn gegangen war und von dem er hin und wieder Geschenke zugeschickt erhalten hatte wie alle seine Verwandten, seine eigene Hand in der Luft, die damals vom langen Winken gezittert hatte, als Alfonso außer Sicht geraten war, der Plan, der Wald, das Bächlein, die unerbittliche Hitze jenes Tages, und dann das Auftauchen einer ganz anderen Parade, einer Männerparade, die irgendetwas geschultert hatte, was nicht sein sollte, nicht sein durfte, das Haar seiner Mutter, wie es ihr über die Schulter fiel, als sie zusammenbrach, das Bett, die heilige Mutter Maria auf dem kleinen Holzregal, die Daguerreotypien eins und zwei.
    »Was ist damit? Und weshalb habe ich das nie gesehen? Das wäre doch ein herrliches Spielzeug für mich und meine Schwestern gewesen?«
    Sein Vater antwortete nicht. Er bückte sich nach den Körben für die beiden Mulis. Die Tiere waren beim Nachbarnausgeliehen, und er wollte zügig starten auf seinem Weg nach Osten, um bis zum Abend möglichst weit zu kommen und möglichst viel Drahtschrott zusammenzutragen.
    »Was hat es damit auf sich, Papa?«
    »Man kann sein Wissen nicht rückgängig machen, Guerrino.«
    »Was, Papa? Es ist doch nur ein Holzpferdchen!« Guerrino sah seinen Vater herausfordernd an. Dieser warf ihm die Zügel des einen Mulis zu, so dass sein Sohn das Spielzeug fallen lassen musste. Es gab einen dumpfen Ton, als es auf dem Boden aufschlug. Widerwillig ging Guerrino daran, sein Muli fertig aufzuzäumen. Wenn Vater stumm sein konnte, dann konnte es Guerrino erst recht. Sein jugendlich ungeformtes Gesicht nahm einen mürrischen Ausdruck an, was es nur noch mehr wie aus Spachtelmasse geknetet aussehen ließ. Er sehnte sich danach, erwachsen zu sein.
    Serafino schmunzelte nicht, er wusste, dass er wie gefangen durch Gitterstäbe auf die Welt da draußen sah. Die Welt, in die er als Kind viel zu rasch hineingestoßen worden war. Er hatte nie mehr nach dem Traum gelangt, der ihm und seinem Holzpferdchen hätte Flügel wachsen lassen können. Beinahe. Er hatte seine Kraft für das aufgewandt, was anstand. Eine nach der anderen hatte er seine Pflichten erledigt, zuerst als ältester Sohn einer verarmten Familie, dann als Ehemann, Familienvater. Sein Kummet war ihm mit neun um den Hals gelegt worden, das Jochgeschirr ungünstiger Umstände, und solange er auf dieser Erde stehen und noch gehen könnte, so lange würde man es ihm auch nicht abnehmen.
    »Ich finde dich altmodisch, Papa, in deiner Art, die Dinge wegzuschweigen.«
    »Nicht jeder Mensch ist dazu geboren, modern zu sein.«
    Serafino scharrte mit der Fußspitze durch den Staub, der sich am Boden hinter der Scheune gesammelt hatte undschob die Kotäpfel des helleren Mulis sorgfältig zur Seite, seine Frau würde sie später aufsammeln und im Garten über die Gemüsebeete verteilen; es war alles vorhersehbar für den, der sehen mochte. Alles, außer dem Tod, der als ungeladener Gast und Kostgänger zu keinerlei Zugeständnissen bereit war, wenn er einmal an die reichgedeckte Tafel des Lebens trat, forderte er alles. Serafino hatte die charakteristischen Bewegungen einer selbstvergessenen Zweckmäßigkeit, sein Blick ging durch den Boden hindurch und tief in die Erde hinein, wie in ein altes dunkles Loch, das er vor langer Zeit einmal gesehen hatte. Er sah den Boden, auf dem er heute stand, gar nicht, er sah andere Bilder. Hin- und hergerissen zwischen der Wahl, aufrichtig zu sein und sich seinem Sohn zu offenbaren oder eben das Thema seines eigenen gebrochenen Widerstandes grad ebenso wegzubolzen wie den Staub unter seinen Stiefeln, konnte er sich nicht entscheiden.
    Guerrino blieb hartnäckig neben dem Muli stehen und demonstrierte seine Kraft, die Kraft der Jugend, des Aufbruchs – wie gut das Serafino alles kannte. »Avanti, Guerrino, wir wollen nicht erst auf die Sonne warten, d’avvero?«
    Die beiden Tiere zogen an, die zweirädrigen Karren knirschten und knarrten. Zweimal jährlich wanderten Serafino und Guerrino die Pfade entlang von

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