Die Ruhelosen
bestätigte: Ich respektiere dich, du bist mein Sohn, du kannst dich in jeder Situation ganz auf mich und mein Wort verlassen.
Und noch bevor er ausgeatmet hatte, spürte er ihn schon wieder auf sich, in sich, diesen Blick, wie ein warmes Wasser, in dem er sicher schwamm und das ihn trug, und er hörte seinem Vater zu, als dieser seine Geschichte zu erzählen anhob.
Diese Rast war etwas länger geraten als gewohnt, und als sein Vater endete, indem er sagte, dass damals andere Zeiten gewesen wären und dass sie alle nicht die Möglichkeiten gehabt hätten, die ihm und Guerrinos Schwestern heute offenstünden, war es bereits höchste Zeit, aufzustehen, die Hosen auszuklopfen und die Mulis neu anzuschirren.
Die nächsten ein oder zwei Stunden marschierten Vater und Sohn schweigsam Schulter an Schulter oder, wo es der Weg nicht erlaubte, wie Säumer hintereinander her, derSohn in der Spur des Vorgängers. Guerrino hatte vieles zu überdenken. Er empfand eine neue Art der Ehrfurcht vor der Tapferkeit seines Vaters. Er war ja selbst fast ein fertiger Mann, ihm wuchsen ja schon überall da Haare, wo nur richtige Männer welche hatten!, aber wenn er daran dachte, er müsste jetzt für eine Familie sorgen, seit Jahren schon, bekam er es doch mit der Angst zu tun. Ein Bild, das er gar nicht erst zu Ende ausmalen wollte. Die Schulterblätter seines Vaters vor ihm bewegten sich gleichmäßig mit jedem Schritt, beständig, verlässlich. Die gegerbten Hautfalten in seinem Nacken sprachen von harter Arbeit, der blonde Schopf, der um einiges heller als Guerrinos eigenes Haar war, aber ließ eine Ahnung von den einstigen hochfliegenden Träumen des jungen Serafino aufblitzen. Guerrino stellte sich vor, wie die Figur vor ihm plötzlich zusammenschrumpfen und sich in einen neunjährigen Jungen verwandeln würde. Ein blondes Kind, das ein Muli am Strick führt. Oder ein Holzpferdchen hinter sich herzog … wo war da heute noch ein Unterschied? Aber warum hat er es später nicht mehr versucht? Wenn es sein Traum war, in den Norden zu gehen, weshalb nicht mit seiner eigenen Familie, vor vierzehn Jahren? Jetzt? Dazu war er doch nicht auf die Dienste eines Holzpferdchens angewiesen.
Ja, warum reisen wir immer nur gegen Osten, weshalb spart er die Reisen mit den Obstdarren für andere auf? Wieso gehen nur die nach Norden und nach Westen, wieso nie wir?
Soviel Guerrino wusste, und jetzt schnaufte er unwillkürlich laut, war sein Vater keinen einzigen Schritt aus der Region hinausgekommen, wenn man einmal von diesen Drahtschrotttouren mit den Mulis absehen mochte. Und weiter als bis Albino war er auch nie nordwärts gelangt.
Als ob der Vordermann diese Fragen zwischen seinen Schulterblättern gespürt hätte, drehte er den Kopf leichtzur Seite und zog sein Maultier zu sich, auf dass Guerrino aufschließen und schließlich wieder neben ihm einhergehen konnte. Nach ein paar Schritten im gleichen Takt setzte der Vater räuspernd an: »Der Mut eines Menschen, Guerrino, ist wie ein Hund. Fütterst du ihn gut und gehst korrekt mit ihm um, bist liebevoll und gerecht gegen ihn, so würde er einfach alles für dich tun, wenn es einmal darauf ankommt. Im umgekehrten Falle aber wird er, wenn du ihn am nötigsten hast, die Ohren anlegen, den Schwanz einziehen, sich eng und klein machen und seine Schnauze zwischen den eigenen Vorderpfoten verstecken. Du musst ihn als das behandeln, was er ist. Und zwar ein Leben lang und ohne Unterlass.« Sein Vater räusperte sich erneut und schaute dem Jungen streng in die Augen: »Füttere und pflege deinen Mut, Guerrino, auf dass du ihn zur Seite hast, wenn du ihn eines Tages brauchst. Nicht zuletzt deshalb haben wir dich Guerrino getauft. Guerrino …« Der Rest blieb ihm im Halse stecken. Also klärte er seinen Hals zum dritten Mal und fuhr eindringlich fort: »Das Leben kann wie ein Krieg sein, es kann dir alles nehmen, was dir lieb und heilig ist. Es kann dir deine Pläne durchkreuzen und sie allesamt zerstören. Wir, deine Mama und ich, wollten, dass du Schicksalsschläge dereinst nicht einfach so hinnimmst. Wir wollten, dass du es einmal besser hast, dass du für deine Träume kämpfst. Dass du für deine eigene rechte Sache auch ein Krieger bist. Ein Krieger mit einem stolzen Hund im Herzen.«
Sünde, Sünde
Ödenburg, 1896
Durfte das wirklich sein? Konnte das der Gott der Christen zulassen, oder war es doch nur wieder der alte Gott der Juden, der hier und heute Ferenc zu seinem persönlichen Hiob
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