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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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gekommen war, fügte er in möglichst unbeschwertem, unbekümmertem, fast gleichgültigem Tonfall hinzu: »Wie war seine Geschichte noch mal?«
    Wie ein Falke auf Futterschau beobachtete er jede Regung seines Vaters. Er sah, wie gefasst dessen Gesicht geblieben war, und er sah ebenfalls, wie seine Hände kurz gezuckt hatten, so, als würde ein rasches Feuer durch sie in die Finger ziehen, nichts davon blieb Guerrino verborgen.
    »Setz dich, Guerrino.« Der Vater warf ihm die Zügel seines Mulis zu, so dass der Junge auf beide Tiere aufpasste, während er sich mit gespreizten Händen nach hinten lehnend auf dem kühlen Boden aufstützte. Guerrino kam es so vor, als ob sein Vater, der damit wohl seine Körperhaltung öffnete, auf diese Weise dennoch die eigenen Hände bändigte, zurückhielt von – was? Einer Handlung? War da etwas Feiges in dieser offen zur Schau gestellten Lässigkeit, einer Pose, die so gar nicht zu Serafino Senigaglia passte?
    »Ich war neun, als ich meine Zukunft zum ersten Mal in die eigenen Hände nahm, und im selben Moment, als ich sie in der Hand hielt, musste ich sie auch schon wieder fahrenlassen. Von da ab bekam ich sie nie mehr ganz zu fassen.«
    Sein Oberkörper wölbte sich bei dem tiefen Atemzug, der nun durch seinen Körper fuhr. Eines der Mulis schnaubte laut in die eigenen Mampfgeräusche hinein. Sein Huf stampfte auf den Boden, ein-, zweimal, dann war es wieder ganz ins Fressen vertieft. Die Vögel zwitscherten aufgeregt, es war die Zeit der großen Besammlung vor der Reise, und eine wärmende Sonne langte durch die Baumwipfel und spielte auf dem schlohblonden Haar des Vatersauf der Suche nach einzelnen Silberfäden. Die Vogelfänger hatten schon überall ihre Fallen aufgestellt, und Guerrino hoffte, spätestens auf dem Rückweg die eine oder andere Schnepfe aufsammeln und mit nach Hause in Mutters Kochtopf bringen zu können. Irgendwo hämmerte ein Specht. Guerrino hatte sich sein Knäuschen nicht herunterzuschlucken getraut, er malmte darauf herum, als gälte es, das Brot im Speichel zu ertränken. Er würde aufpassen müssen, sich nicht daran zu verschlucken. Noch immer schaute sein Vater in die weite Ferne auf der Suche nach den rechten Worten, die, nicht zu viel und nicht zu wenig, dem Sohn erklären könnten, was damals in ihm vorgegangen war und weshalb er alles, was mit diesem Holzpferd zu tun hatte, am liebsten in Vergessenheit versenken wollte.
    Aber in seinem Leben hatte Serafino auch gelernt, wie wichtig Aufrichtigkeit war. Schon seine Eltern hatten ihn nie an der Nase herumgeführt, immer hatte er gewusst, woran er war, im Guten wie im Strengen. Und seine Frau Immaculata war ihm mehr als einmal auch der Kamerad gewesen, den er so nötig hatte. Da war kein Platz für Lügen, Verheimlichung oder falsches Getue, Serafino hatte in seinem ganzen Leben nichts anderes gelernt, als dass eine der größten Tugenden die Aufrichtigkeit war. Indem der Mensch dazu steht, wie es um ihn steht, findet er am ehesten und schnellsten aus Fährnissen und Wirrnissen heraus. Und so wäre es wohl auch mit dieser Situation, die ihm die Größe abverlangte, zur eigenen, wie er fand, Kleinheit zu stehen.
    Serafino hatte mittlerweile seine Gedanken genügend geordnet und schaute seinem Sohn fest in die Augen. Guerrino stockte fast der Atem, aber er erwiderte den Blick wie ein erwachsener Mann. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, weshalb sein Vater in diese so sichtbare Beklommenheit verfallen war. Vielleicht war eben doch nicht allesso klar und gewissenhaft und vorhersehbar in seines Vaters Leben, vielleicht gab es da doch die eine oder andere Ungereimtheit, schoss es Guerrino durch den Kopf, und plötzlich bedauerte er, insistiert zu haben. Seine Eltern waren ihm immer wie eine Einheit vorgekommen in ihrer stillen Verständnisinnigkeit. Zwei wie aus einem Stück Holz geschnitzt oder mit einem Draht fest umwickelt. Seine Eltern gehörten nicht zu der Sorte, die man gegeneinander ausspielen konnte, es nützte nichts, den Zweiten zu fragen, wenn der Erste bereits Nein gesagt hatte. Ihre Antwort war unisono. »Hat es dir dein Papa erlaubt? Nein? Dann kennst du die Antwort also schon, was fragst du mich.« Und umgekehrt grad ebenso: »Was hat deine Mama dazu gesagt? Nein? Was verschwendest du nun Zeit bei mir?« Beide mit dem gleichen liebevollen Schmunzeln, dem einen Blick, der Guerrino durch seine ganze Kindheit bis heute vierzehn Jahre lang geführt hatte, der Blick, der ohne Unterlass

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