Die Ruhelosen
Ortschaft zu Ortschaft, von Alzano Lombardo über Brescia nach Verona und hinauf bis nach Vicenza und sogar noch weiter bis nach Marostica, wo man ihnen alte Eisenkleinteile und Drahtschrott abgab. Dabei achteten die zwei Männer gewissenhaft darauf, dass bei Serafino ausschließlich die Altware geladen wurde, die kaputt war, wohingegen Guerrino auch schon mal den einen oder anderen Gegenstand entgegennahm, den sie auszubessern und zurückzubringen hatten. Von herumziehenden Drahtbindern, ehemaligen Bauern aus Žilina, die vor der ungarischen Feudalherrschaftgeflohen waren, hatte Serafino das Handwerk, das aus der Not geboren war, einst erlernt. Längst nicht so geübt wie diese wortkargen Männer, gelang es ihm mit der Zeit immer besser, mit einer Mischung aus Wasser und Mehl zerbrochene Krüge zu kitten und sie mit einem Drahtgeflecht zu stabilisieren und damit wieder nutzbar zu machen. Mit der Zeit erweiterte er sein Repertoire und fertigte Vogelfallen an aus Draht oder auf Wunsch auch Vogelbauer, Mausefallen und Kartoffelkörbe. Und immer wieder gerne: Obstdarren.
Krumme Nägel, Stiftschrauben und Muttern, altes Handwerkszeug, verbogene Türbeschläge, stumpfe Zahnräder und abgebrochene Zahnradteile, Metallspäne und Metallbürsten, Drahtspitzen oder Blechtöpfe und zerbrochenes Besteck nahmen Serafino und sein Sohn dankend entgegen. Zu Hause würden sie das Material sortieren und entscheiden, was daraus zu fertigen wäre. Zumeist einfaches Haushaltszeug, und eben: Obstdarren, die sich die Täler hinauf bis an den Lagh Maggior und neuerdings auch bis nach Domodossola gut verkaufen ließen. Serafino hatte ein feingesponnenes Händlernetz aufgetan, so dass er die weiten Reisen nicht selber unternehmen musste, lediglich die eine, auf der er alles zusammensammelte, was zusammenzubekommen war.
Auch dieses Mal führte sie ihr Weg von Provinznest zu Provinznest, von Haus zu Haus, gute zweihundert Kilometer weit und wieder zurück. Sie aßen unterwegs, was sie mitgenommen hatten, Äpfel, Aprikosen, oder sie lutschten auf Oliven herum, kauten an einem Kanten Brot. Sie tranken das Wasser aus den Bächen. Nur in Marostica, dem Wendepunkt ihrer Reise, konnten sie sich jeweils auf etwas Besonderes freuen. Dort nämlich kehrten sie gewohnheitsmäßig bei der Familie di Bosco ein und futterten nahrhafte Salami, frisches Brot und tranken den Wein aus den Bergen.Die di Boscos waren eine mittelständische Familie mit vielen Kindern und Neffen und Nichten.
Eine der Nichten, Comsola aus Vallonara, war eine besonders aufgeweckte. Sie schreckte vor keinem frechen Wort zurück und war nie um eine Antwort verlegen. Mit den Jahren, die sie in der Wirtschaft ihrer Verwandten aushalf, hatte sie sich daran gewöhnt, den Gästen Paroli zu bieten. Dann stampfte sie mit ihren O-Beinen durch die Wirtsstube und schimpfte auf Zimbrisch eine Tirade, bei der ihre Hände durch die Luft fuchtelten, als wollte sie diese selbst neu ordnen. Guerrino fürchtete und bewunderte sie zugleich, dieses stämmige Geschöpf, das durch nichts aus ihrer Verankerung zu bringen war. Von ihr hätte er gerne die Welt erklärt bekommen. Und er überlegte sich, wie es wohl sein musste, wenn man sich getraute, so ohne jegliche Bedenken jeder und jedem seine Meinung kundzutun. Dabei war sie nicht einmal hübsch. Wenigstens hatte Guerrino nie jemanden dieserart von ihr reden hören. Aber darauf gab Comsola, die mit vollem Namen Comsola Rodope di Bosco hieß, nichts.
Den wohlig-aufregenden Gedanken an die bevorstehende Begegnung im Hinterkopf, stachelte sich Guerrino schrittweise dazu an, selber eine bestimmte Unangepasstheit zu leben, ohne jedoch zu sehr aus dem Rahmen zu fallen, und so wartete er ab, bis sein Vater und er nach Stunden der Wanderschaft das Zaumzeug lockerten, die Mulis grasen ließen und an der gestauten Stelle eines Bächleins eine Rast einlegten. Guerrino entschloss sich dazu, es auf eine, wie er fand, nüchtern-erwachsene Weise erneut zu versuchen, zu den Geheimnissen seines Vaters vorzustoßen.
Erst räusperte er sich so, wie er es von seinem Vater und anderen erwachsenen Männern abgeschaut hatte, zog die Augenbrauen in der Stirnmitte zusammen und schob sie indie Höhe. Dann begann er mit einer Floskel, die er ebenfalls dem Erwachsenenvokabular zuordnete und die seiner Stimme die nötige Zeit ließ, sich zu festigen: »Um noch einmal auf dieses Holzpferd zu sprechen zu kommen, Vater …«, und als zu seiner Überraschung bis hierher kein Veto
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