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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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völlig aus dem Häuschen und ganz und gar aufgebracht, als sie ins Spielzimmer trat und dieses verwaist vorfand. Kein Elia Costantino Italo, der sich über all die hübschen Spielwaren beugte, die sie in den vorangegangenen Jahren für ihn angesammelt hatte, kein lustiger Strubbelkopf, der durch das Zimmer wirbelte, keine Bernsteinaugen, die in die Luken eines Blechdampfers lugten – nichts: Er war nicht da!
    Abelarda fuhr auf und rief nach der Köchin, Abelarda befragte bange und halb hysterisch die Nachbarn, den Milchmann, der vorbeikarrte, den Bäcker Coën, und dann stürzte Abelarda wie von Sinnen aus dem Hause dem Hafen entgegen, als peitschte Mephistopheles selbst hinter ihr her.
     
    Elia Costantino Italo stand an der Reling des Handelsschiffes »Anna« der Frachterlinie Austro-Americana und bewunderte den Vormast. So hoch ragte er in den Himmel hinauf, und seiner Maserung sah man die Wetter an, die er schon erfahren hatte. Elia sah die Winde in den Segeln, das Blähen und das Zerren, er hörte das anschwellende Pfeifen einer Bö, ahnte das baldige Aufbrausen eines Orkans, unter seinen Füßen spürte er das Vibrieren der Maschinen und bemerkte zufrieden, wie aus dem vorderen Schornstein eine konstante Rauchfahne dem Ufer Adieu winkte, einzige sichtbare Spur zwischen Schiff und Hafen, an der sich Elia vielleicht noch hätte entlanghangeln können, zurück in sein altes, beschauliches Leben, wenn er es denn gewollt hätte. Aber Elia hatte anderes im Sinn. Dieses Schiff würde ihn an den Ausgangspunkt seiner Wünsche bringen, in neue Lande. Nach Amerika, wie es hieß, und er war wahrlich willens, diese Reise zu unternehmen mit seinen gerade mal neun Jahren.
    Einem kleinen Jungen boten sich so allerlei Verstecke an auf einem Frachter. Ob er sich im Heck hinter der Niedergangstreppe ins Dunkle duckte oder ob er am Bug die eine Luke hinabkletterte und in der Nähe des Kompasshauses durch eine andere wieder oben auftauchte, selbst hinter Seilwinden und Abdeckplanen fand er vorübergehend Unterschlupf, wenn ihm ein Passagier zu nahe auf die Pelle rückte, wie er ärgerlich in seiner geheimen Seemannssprache vor sich hinmurmelte, selbst wenn ihm eine Passagierin mit besorgtem Blick hinterherschaute und unentschlossen mit der Hand nach ihm langte, immer fand er einen Winkel, der wie für ihn und seine bubenhafte Gestalt geschaffen war, die er, wenn es darauf ankam, zur Größe eines Balles komprimieren konnte.
    Viel schwieriger als Versteckspielen gestaltete sich die Proviantbeschaffung. Es gelang ihm, einer Signora schöneAugen zu machen und dafür auf einen Kakao mit Keks eingeladen zu werden in den feudalen Salon mittschiffs, wo ein Orchester spielte. Die Dame sprach in einer fremden Sprache, und ihre Augen rollten lustig. Elia wusste, wie man sich als Spielzeug zu präsentieren hatte, und bekam dabei den einen oder anderen zärtlichen Knuff ab; diese unverständlich Plappernde war ganz vernarrt in ihre putzige Deckbekanntschaft.
    Später schnorrte Elia einem Matrosen ein halbes Butterbrot ab, der junge Seefahrer schien selbst nicht viel älter als Elia zu sein, und beinahe hätte aus den beiden so etwas wie Freunde werden können, wäre da nicht Elias angeborenes Misstrauen sozialen Beziehungen gegenüber gewesen. Er blieb lieber selbstverantwortlich, er blieb lieber allein. Dann hätte er sein Geschick in der Hand, dann wäre er Herr seiner Wege, und dieser eine Weg hier führte ihn tief in das Schwarz hinein, in dem sich der Ozean mit dem Nachthimmel vereinte.
    Er fror nicht wenig. Die eine Decke, die er sich vom Flanierdeck ergattert hatte, hielt ihn nur unzulänglich warm, und bereits in dieser ersten Nacht zweifelte er an der Durchführbarkeit seines Plans. Es war stockfinster. Am Himmel zog vielleicht tatsächlich ein Gewitter auf, und keine Möwe kreischte. Kein Vogel, der seinem hellwachen Blick hätte Schauspiel sein können, nichts. Er versuchte, eine Weile mit offenen Augen zu schlafen, was ihm aber auch nicht recht gelingen wollte, und so schlüpfte er aus seinem Versteck hervor und marschierte über das menschenverlassene Deck. Aus dem Schiffsinnern vernahm er hier und da einzelne Worte, die dumpf durch die Wände zu ihm drangen, Männer, die miteinander Karten spielten und über die Regeln debattierten, Frauen, die lachten, und manchmal auch die Geräusche von Männern und Frauen gemeinsam, die sich gerade so anhörten wie seine eigenen Eltern mitten inder Nacht, dann, wenn sie dachten, er

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