Die Ruhelosen
Zwischenstopp einlegten, um die letzten zahlenden Passagiere an Bord zu nehmen, könnte man ihn dort den örtlichen Behörden übergeben, die wüssten dann schon, was mit ihm zu tun wäre.
Elia nutzte die Gelegenheit, dass ihm der Alte den Rücken zukehrte, und pellte sich aus seiner klammen Kleidung.Dann stieg er rasch in die viel zu lange Unterhose und zog sich den Pullover über den Kopf. Er kratzte. Elia biss sich auf die Lippen. »Vom vielen Salz gesprungen, was?«, fragte der Ingenieur lachend. Elia schwieg entschlossen.
»Wie heißt du überhaupt?«
Elia überlegte, ob eine Lüge angebracht wäre, aber wieder überkam ihn dieses Gefühl, das er schon oben an Deck hatte, als er diesem großen alten Mann im ersten Schrecken über das Entdecktwordensein in die Augen geblickt hatte, das Gefühl nämlich, dass dieser ohnehin schon alles wüsste, selbst, wenn es eine pfiffige Lüge wäre, also konnte man geradeso gut gleich die Wahrheit sagen. Er sagte: »Ich bin Elia, der Zweite. Elia Costantino Italo Israël.«
»Soso, der Zweite also. Weiß denn der Erste, dass der Zweite hier ist?«
»Wieso sollte er?«
Keckes Bürschchen, dachte der Ingenieur, und wieder: ganz wie ich damals. Nur, was trägt er da an seinen Füßen? Waren das silberne Spangen über dem Spann? Der Arme. Er war mit seinen wenigen Jahren wirklich noch zu jung, um anzuheuern, man konnte ihn noch nicht so recht gebrauchen. Gunnar Larsson seufzte. Er würde ihn in die Knechtschaft einer überbehüteten Kindheit zurückführen müssen, in die Salonsüffisanz und Dekordekadenz einer auf Oberflächlichkeit bedachten Oberschicht, da gab es kein Drumherumkommen, nein. Mit einem Nicken bedeutete er ihm, er möge sich nun in die eigens für ihn zurechtgemachte Koje begeben. Elia gehorchte und zog den Vorhang zu.
Keine Armlänge von ihm entfernt, hörte er den alten Mann schnaufen. Von draußen prasselten noch immer dicke Regentropfen gegen das Bullauge, und der Dampfer wogte auf und ab. Was wohl sein Freund auf dem weiten offenen Meer machen würde, wenn es so weiterregnete und bald wohl auch gewitterte? Und als ob der Ingenieur auch jetztim Dunkeln noch und kurz vor dem Einschlafen seine Gedanken lesen könnte, brummelte dieser in die Stille der Kabine hinein: »Das war ein ganz schön Verwegener, ein wunderbares Geschöpf unserer herrlichen Natur, dein Delphin«, und als es am Vorhang ruckelte, »jaja, ich hab ihn auch gesehen, Elia, der Zweite, ein ganz großer Tümmler war das, dein Kamerad.«
aus dem Nest geworfen
Miskolc, 1899
Das Kind lebte mal bei diesem, mal bei jenem, wurde von Hand zu Hand und hin- und hergegeben und war allen immer nur eine Zeitlang genehm. Selbst seine hoffärtigen Großeltern zu Wien hatten für seine Präsenz keine Verwendung. Leider nein. Und so schickte Ferenc Dušan seinen Sohn Feri nach einem erneut missglückten Versuch, ihn zu Hause bei sich, der schwachköpfigen Halbschwester Anna Sebastiana, dem neuen Bruder Imre und der nunmehr zweiten Stiefmutter, Ferenc Dušans dritter Frau, Zelma, einzupassen, den Himmel anklagend fort, mit dem Zug bis nach Miskolc, wo eine entfernte Verwandte von Zelma, passenderweise Friseuse von Beruf, seiner Erziehung und Ausbildung obwalten sollte. Zelma hatte es gutgemeint, aber Ferenc Dušan hatte es nicht ertragen, den Jungen noch länger um sich zu haben. Er empfand das Gesicht des eigenen Sohnes wie einen Teich, von dessen Grund das verlorene Antlitz seiner ersten Frau, Krisztina, nach oben schwebte, Tag für Tag. Selbst seine Haut glich der der Verstorbenen. Obwohl sich die Guckerschecken mittlerweile fast bis auf den letzten verflüchtigt hatten. Aber die breiten Schaufelzähne hinter den vollen Lippen gemahnten an das Bild der Mutter, der gesprenkelten Krisztina, deren Erinnerung doch bitte endlich, endlich verblassen sollte!
Feri spürte die Veränderung, die in ihm vorging. In seinem Inneren ließ er die vielen Bilder verbleichen, die ihn mit seiner Großmutter Alžbeta verbanden. Er hätte es zwar nicht mit Worten auszudrücken vermocht, aber ohneOmami Alžbeta und Opapi František, die entrückt von dieser irdischen Welt waren, würde die Zukunft für ihn ein gehöriges Stück ärmer aussehen.
Eine erratische Wut perforierte sein Gemüt, Feri wurde böse, und er spürte das auch. Und er lernte, dieses Wissen ganz für sich zu behalten. Virag und Károly, die gemeinsam ein Friseurgeschäft in Miskolc führten und sehr bestrebt waren, ihren Kundenkreis möglichst weit
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