Die Ruhelosen
Nächste wieder in der Folge oder auch erst der Übernächste, so groß war die Liebe seiner Eltern zueinander, das bräuchte Zeit und Generationen, bis wieder einmal einer der Schöns liebenswürdig wäre, das dämmerte ihm nun, das wusste er nun, das und dass ihm allein dadurch seine erste und auch seine zweite Frau genommen worden waren, weil seine Eltern alle Liebe und das gesamte zur Verfügung stehende Liebesglück schon für sich aufgebraucht hatten.
Und je mehr sich Ferenc in seinen Kummer und seine Ohnmacht sinken ließ, umso ruhiger wurde es in ihm, erfühlte sich fast so wie ein Teich, der allmählich verlandete, und noch bevor der Morgen über ihm und dieser namenlosen Gasse graute, ahnte er, dass diese neue, vom Verlust seiner zweiten Frau frisch geschlagene Wunde bald Schorf bilden würde, und Schorf, so wusste sich Ferenc weiter zu beruhigen, würde mit der Zeit abschilfern und verschwinden.
Es fiel ihm schwer, wieder auf die Beine zu kommen. Er musste sich mit beiden Händen abstützen, und wo war eigentlich sein Mantel, hatte er sich nicht einen Mantel übergezogen, als er das Haus vorangegangene Nacht so übereilt verlassen hatte? Er wischte sich den Straßenstaub von beiden Hosenbeinen, zuerst vorne, dann hinten, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und pflanzte seinen Hut obenauf, dann rückte er sich auf dem eigenen Skelett zurecht und stakste zurück und in die nächstbeste Weinstube, die ihm Einlass bot. Dort bestellte er sich ein Häferl Wein, man musste ja noch an irgendetwas glauben können, und wollte sich erst mal die nötige Bettschwere antrinken, bevor er zurück nach Hause ginge, in das Haus des Todes, in dem der Teufel immer wieder seine unerwarteten Trümpfe mit ins Spiel warf und in dem seine Herzdame, nun herztot auf dem Bette liegend, auf ihren Bestatter wartete.
Elia, der Unerschrockene
Fiume, 1899
Sie hatten es mit dem Lieben nicht. Schon immer hatten sie es schwer gehabt, die richtige Paarung zu finden. Es schien fast so, als wäre es das Kismet der Israëls, nie denjenigen Menschen ganz lieben zu können, den das Schicksal für sie auserkoren hatte oder, schlimmer noch: den sie selbst gewählt hatten, aus Gründen, die sie selber nicht genau zu bestimmen wussten, aber der Fluss der Liebe floss in diesen Tagen und, wie man weiß, auch in früheren für die Israëls nicht. Was Elia Primo und Abelarda lebten, war ein kampfreiches Duett von Contenance-Bewahren und Übereinander-Herfallen, ohne sich die Mühe zu machen, einander näher kennenzulernen, und ohne die Seele des anderen je wirklich zu erreichen. Wie es schien, wollten das auch beide nicht, nicht wirklich. Elia Primo hatte seine Geschäfte, die ihn erregten, die er bis in die tiefsten Winkel verfolgte und deren Abläufe er bis ins kleinste Detail verstand und mehr noch: die er voraussagen konnte. Ein allumfassendes, beruhigendes Verständnis, wie ein Mann eine Frau ja doch nie würde verstehen können; und Abelarda hatte ihren Sohn. Den bernsteinäugigen Elia Costantino Italo, den sie überallhin mitschleifte, herumzeigte, in kokette Anzüge steckte oder in die Uniform eines Matrosen, dem sie nachrief, wenn er wieder einmal verträumt an der Mole stand, aufs Meer hinausstarrte und Wellenkämme aufaddierte. Den kleinen Elia, den sie zu Musiklektionen anhielt auf dem Flügel und auf dem Cello, das eigens nach seinen Maßen angefertigt worden war, Elia, ihr blankpoliertes, ausstaffiertes,ihr schönstes Spielzeug unter allen, den sie auch jetzt noch eigenhändig zu baden und einzuseifen pflegte, als wäre er ein Kleinkind. Und solange sie sich ab und zu aneinander abregen konnten, Abelarda und ihr Mann, in ihren wilden, ungehaltenen und immer auch sehr liebesarmen Lustspielen, in denen jeder perfekter Schauspieler war und doch einsamer Solist, so lange würde diese Ehe auch ein durchaus lebbares Arrangement bilden, dem keiner der beiden je entfliehen müsste. Wenigstens nicht für länger als für zwei, drei Tage, und Abelarda wusste immer schon im Voraus, dass ihr Herr Gemahl zu ihr zurückkommen würde. Ganz bestimmt. Ihre gemeinsame Komposition brauchte die Dynamisierung von Abstandgewinnung und Wiederannäherung. Ganz allgemein verfügte Abelarda nur über geringe Aufregungsbereitschaft, was das zeitweilige Fernbleiben ihres Gatten vom ehelichen Hause betraf, sie pflegte lieber großzügige Nonchalance bei ihrem Mann, aber sie duldete keine Sekunde des Nichtwissens über den Verbleib ihres Sohnes, und so war sie
Weitere Kostenlose Bücher