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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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schliefe, dann, wenn sie sich sicher waren, er hörte nichts. Oder wenn es ihnen einfach egal war, ob er etwas hörte oder nicht; aber er hörte sie immer, und er hasste es, die Stimmen seiner Eltern so zu hören. Es entfremdete ihn seiner Mutter und ließ ihn auch vom Vater abrücken; wenn jemand so unkontrolliert stöhnen konnte, dann wäre auf diesen Menschen kein Verlass. Ganz bestimmt nicht. Er, Elia Costantino Italo, er würde der Welt schon zeigen, wie man als Mann und Mensch zu leben hätte. Planvoll, selbstbeherrscht und siegesgewiss. Und auf alle Fälle: still. Reden war nicht seine Sache, er geizte mit seinen Worten und gab nur unwillig Antwort, wenn eine der Freundinnen seiner Mutter ihn nach dem Alter »des kleinen Herrn«, nach der Anzahl seiner Musikstunden, nach einem möglichen Süßspeisengelüst ansprach und ihn dabei mit dieser unerträglichen Mischung aus Begehren und Spott ansah, die er an den Weibsbildern ganz allgemein verachtete. Die fremde Frau im Salon hatte ihn ebenfalls belustigt angesehen, aber nicht wie man ein kleines Kind ansah, sondern irgendwie doch respektvoller, fast so, als wäre er bereits ein großer Herr.
    Der Hunger nagte nun an seinen Eingeweiden, und die Spitzen seiner Finger waren klamm, als er sich Schritt für Schritt zum Heck des Schiffes vorarbeitete. An den goldglänzenden Leisten der Reling hielt er sich fest, zog seine kräftige Hand über das Geländer und zählte die Anzahl der Stützen bis zum Heck. Dann blieb er stehen und beugte sich über die Reling. Sein Blick erhaschte etwas Großes, Schwarzes, das unter der anthrazitenen Wasseroberfläche hinter dem Schiff herschoss. Elia rieb sich die Augen und kniff sich in den Arm: Wachte er oder träumte er? Seine Stirn zog sich zu angestrengten Runzeln zusammen: Was für ein Meeresungeheuer verfolgte ihn denn da? Er stand und er schaute. Und plötzlich brach ein glitzeriges, schlankesEtwas durch die Oberfläche und schnellte ihm grinsend entgegen, diesem erstaunten Jungen, der darob beinahe das Gleichgewicht verlor. Ein lachender Delphin der Adria, der sich ihn zum Spielkameraden auserkoren hatte! »Juhuu!«, rief Elia in die Nacht, »juhuu, hier bin ich!«, und: »Siehst du mich! Ich sehe dich, ich sehe dich!«
    Der Delphin schimmerte ölig und schwamm pfeilschnell unter den Wellen hindurch, brach durch die Gischt und planschte wie ein Kind in der Wanne. Elia war ganz Begeisterung und spreizte beide Hände in der Luft, komm, spring noch einmal hoch, spring hoch, berühre mich, dachte er gebannt, und schneller und schneller glitt das schlanke Tier durchs Wasser, scherte einmal nach links, ein andermal nach rechts aus, warf sich auf die Seite oder warf sich in die Höhe, bis es wieder mit lautem Knall tief hinab ins Wasser klatschte und untertauchte, nur um andernorts noch schneller und zielgerichteter emporzuschießen.
    Das Dröhnen des Schiffes war auf ein regelmäßiges dumpfes Stampfen zurückgeschraubt, das von der Stille des Ozeans umrahmt wurde, ein Geräusch, das Elia nun erstmals störte. Ein kühler werdender Wind spielte mit seinem Haar, Vorbote eines weit mächtigeren Gebläses, in das das Schiff bald einfahren würde. Elia hätte gerne alle Klänge ausgeschaltet und den Atemgeräuschen des Delphins gelauscht, der seine Akrobatik zur Schau stellte. Als müsste er noch immer um seine Aufmerksamkeit buhlen. Dabei hast du mich doch schon, ich bin ja schon ganz herzbetrunken vor lauter Glück und Glückseligkeit! Mit gewagten Flugeinlagen beabsichtigte der Delphin, die Blicke des Jungen auf sich zu halten, ein kleiner Halbstarker, der einen anderen kleinen Halbstarken zu beeindrucken versucht. Seine Sprünge versprühten Lebenslust, der dunkel verhängte Himmel kümmerte dieses Wasserlebewesen keinen Deut, nichts, was ihn hätte verschrecken können: Er hatte seinenBewunderer für die Nacht gefunden und würde diesen so schnell nicht hergeben. Und Elia war ein treuer Bewunderer, er zog sich die Decke enger um die Schultern und vergrub seine Fäuste in ihrem Saum als sicherem Verschluss. Dann leckte er sich das Salz von der Unter- und der Oberlippe und flüsterte: »Nur zu, ich kann dich sehen. Ich sehe dich«, und dann noch einmal, kaum hörbar: »Ich sehe dich.«
    Erst, als die ersten Tropfen mächtig auf ihn platschten, ihm in null Komma nichts die Schulterpolster tränkten und das Haar den Gesichtskonturen entlang gelten, fühlte Elia, dass er wohl früher oder später klein beigeben müsste. Der Delphin

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