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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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wirkten. Guerrinowar nicht der Einzige, der dieses Treiben beobachtete: Ein Dorfpolizist hatte sich im Schatten einer Linde aufgebaut und stierte mit scheinbar unbewegten Blicken über den See. Junge Männer warfen einander Bälle zu, und junge Frauen keckerten heiser, wenn sie – unabsichtlich oder absichtlich – unter vielen Entschuldigungen der Junggesellen und Hagestolze getroffen wurden. »Weit haben wir es gebracht, Comsola. Eine solche Freiheit uns errungen.«
     
    Gemeinsam führten sie ein Comestibles-Geschäft an der Dorfstraße sowie ein Restaurant, den Falken. Comsola war die Königin der Krämerware, derweil Guerrino das Servierpersonal in der Wirtschaft dirigierte. Eintretende Gäste begrüßte der Padrone persönlich, und jeden Abend, wenn Comsola den Schlüssel von der Türe zum Comestibles-Geschäft abzog, kam sie herübergewatschelt und stieg hinunter in die Kellerküche, wo sie bis Mitternacht in Töpfen rührte.
    Senigaglias hatten 1908 die Gelegenheit beim Schopf gepackt und sich – zuerst nur zur Miete, nun als im Grundbuch eingetragene Besitzer – mit dem Geschäft an der Dorfstraße der Zentralschweizerischen Einkaufsgesellschaft Union angeschlossen, einem Schweizer Detailhandelsunternehmen, das Einkauf und Logistik unabhängiger Detaillisten übernahm und damit in direkter Konkurrenz zum Verband schweizerischer Konsumgenossenschaften stand, der mit seinem »Genossenschaftlichen Volksblatt« eine aggressive Werbestrategie verfolgte, wie so mancher unabhängige Detaillist hinter vorgehaltener Hand oder auch ganz offen wetterte.
    Mit viel Fleiß und Einsatz hatten Guerrino und Comsola die Räume frisch herausgeputzt, die Wände gekalkt, jede einzelne Diele des Flechtparketts mit geschlämmtem Umbrasand geölt und gebohnert. In manche der Fensterrahmenmusste Guerrino neue Scheiben einlegen lassen, und die Kücheneinrichtung erfolgte nach eigenen Überlegungen. Für sich selber hatte er in der hinteren linken Ecke der Küche eine Arbeitsplatte zum Ausbeinen eingerichtet, und Comsola wusste, wann immer er des Morgens verschwörerisch in ihr Ohr hauchte: »Atta wida Enteli in de Bacc …«, würde er spätestens im Laufe des Vormittags mit zwei oder drei erlegten Küsnachter Bachenten herrisch Einzug halten.
    Sollte er damit glücklich werden, hin und wieder auf die Jagd zu gehen, um Selbsterlegtes zu servieren, ihr Glück bestand allmorgendlich darin, den großen Bartschlüssel in der Tür zweimal umzudrehen und in den unvergleichlichen Geruch ihres eigenen Reiches einzutreten. Drei Treppenstufen hatte sie zu nehmen vom Trottoir aus, um auf die Ladenebene zu gelangen, und nach besagter Schlüsselzeremonie schritt sie in ihr Geschäft und stand vor einer ausladenden Theke, in welche Guerrino speziell für sie Schütten eingearbeitet hatte. Die schwarzen Eisengriffe hatten eine zarte ovale Muschelform und glänzten wie Rabenaugen. Vorsichtig prüfend, kippte Comsola Morgen für Morgen jede einzelne leicht nach vorne, um mit der halbrunden Löffelschaufel genussvoll darin herumzufahren. Das war ihr persönlicher Schöpfungsakt, an den sie im Laufe eines Arbeitstages immer wieder erinnert wurde, wenn sie den Inhalt eines Behälters von der Schaufel in die Papiertüte gleiten ließ. Die spezifischen Geräusche, die Kaffeebohnen, Zucker, Grieß, Salz und Mehl auf ihrer Rutschfahrt machten, waren wie Musik in ihren Ohren. Zucker kräuselte ihr die Nackenhaut, Kaffeebohnen kitzelten sie unter den Armen, und das luftige Rieseln des ansonsten stillen Mehls streichelte ihr noch minutenlang über den Rücken hinab, so dass sie jeweils mit fernem Blick dastand und in sich hineinlächelte. Die sonst so resolute und für ihrenscharfen Ton bekannte Comsola Senigaglia schenkte ihren Kundinnen und Kunden in diesen Momenten eine ganz andere Seite von sich, eine, die jene oft mit nachbarschaftlicher Freundlichkeit verwechselten, weswegen sie auch gerne wiederkamen, war sie doch ein Ausgleich zu Comsolas zuweilen doch recht aufbrausender Art.
    Denn Comsola konnte loslegen wie ein Herbstgewitter. Hatte zum Beispiel ein Kunde eine Ware ohne ihr Einverständnis mit bloßen Händen angetastet, ließ sie ein Gezeter von der Leine, dass einem Hören und Sehen verging. Dann war sie ganz außer sich und redete sich halb um den Verstand – und den reuigen Kunden um jedes Verständnis. Aber man musste einfach Nachsicht mit ihr üben – einen Krämerladen wie den ihren gab es weit und breit sonst keinen.
    Oft kauften die

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