Die Ruhelosen
dem Bischof flüstern.
Pfarrer Kälin knabberte an seinem Daumennagel, es störte ihn, wenn sich Schmutz darunter ansammelte, und mit seinen scharfen Schneidezähnen putzte er sich die Finger sauber. Seine Nägel waren ungewöhnlich lang, unziemlich, könnte man meinen, aber ihm gefielen sie so, und die Rillen, die vom Nagelbett her dem geschliffenen Dreieck nach in eine pointierte Nagelspitze zogen, fühlten sich auf seiner Zunge aufregend an.
»Gemeinderat Füchslin, da sind Sie ja schon!«, rief er aus und schwenkte theatralisch beide Arme, im Kuschen und Kotauen war er meisterlich. »Kommen Sie, setzen Sie sich, nehmen Sie Platz, ein Gläschen … W-asser, vielleicht?« Er konnte die Situation gerade noch retten, und der Stolz darüber trieb ihm holde Schamesröte ins Gesicht.
»Nume nid gsprängt, Pfarrer.« Damit setzte sich der Gemeinderat behäbig und ebenfalls sehr theatralisch auf den dargebotenen Stuhl und legte beide Hände auf den Tisch. Was für Pranken. Hügelig und behaart. Und unter jedem Nagel Schmutz. Wo der wohl wieder seine Finger hineingesteckt hatte? Pfarrer Kälin starrte fasziniert auf diese breiten Finger, er hatte gar nicht gewusst, was für massige Hände dieser Füchslin hatte.
»Ihr kennt ja die Stygerkinder, Pfarrer, nicht wahr?«
»Ich könnte nicht gerade behaupten, dass sie regelmäßige Kirchgänger wären …«, probierte Kälin – mit einem kleinen Obolus im Sinn –, die Stimmung bereits zu Anfang in Richtung Mitleid zu schwenken.
»Darum geht es heute nicht. Die Mutter ist gestorben.«
»Nein!«
»Doch. Heute früh. Schwindsucht. Ich komme soeben von Doktor Bisig zurück. Er hat ihren Tod festgestellt.«
Pfarrer Kälin zählte flink eins und eins zusammen: Da der Vater bei einem ominösen Unfall bei der Nord-Ost-Bahn vor nur knapp einem Jahr ums Leben gekommen war, wären die Kinder nun allein – wo man ja bis heute nicht so genau wusste, ob der das gar am Ende nicht auch so gewollt hatte, der war ja so ein Jammerlappen sein Lebtag lang. Und jetzt also die Mutter, Gott erbarm’s, die armen Kinderchen. Mündel also. Mündel, das bedeutete Mündelgeld. Vielleicht auch einen Batzen für ihn. Er horchte auf.
»Die beiden werden verdingt.«
»Die beiden?«
»Der Größte ist verschwunden. Wir wissen nicht, wo er sich zurzeit aufhält. Das Ganze ist noch nicht spruchreif, aber wenn es zur Verdingung kommt, und diese Gant wird sicher in den nächsten Tagen über die Bühne gehen, will ich, dass das Los der Älteren, Mauritzia, auf meinen Schwager, Bauer Schädler aus Samstagern, fällt. Man soll sie ihm überantworten.«
Pfarrer Kälin kannte die Stygerkinder vom Sehen, den Jeremias, der wohl schon erwachsen sein dürfte, aber immer noch ab und zu im Dorf herumlümmelte, und die beiden blonden Seelchen Mauritzia und Lina, denen die Zöpfe beim Laufen immer so lustig hinterherzappelten. »Wo sind die Mädchen jetzt?«
»Wir haben sie auf dem Polizeiposten abgegeben. DieFrau von Polizist Öchslin kümmert sich um sie. Kann ich mich auf Sie verlassen?«
Der Pfarrer nahm seine linke Hand in die rechte und strich sich mit dem Daumen über jeden der fünf pfeilförmigen Fingernägel, als müsste er noch überlegen. Dann lehnte er sich schwungvoll zurück, breitete wie zu Beginn einer Predigt seine beiden Arme aus und rief im liebedienerischen Tonfall eines erschöpfenden Hallelujahs: »Aber ja doch! Natürlich, soll gelten! Sie können auf mich zählen, Gemeinderat Füchslin, jederzeit!«
Wenn nur die beiden Burschen nicht auch noch kamen. Mauritzia schob ihren Rock zurecht, der geblümte Schurz war schon wieder eingerissen, wie sie das vor der Bäuerin Schädler geheim halten sollte, wusste sie nicht. Mit zittrigen Fingern flocht sie sich die langen Zöpfe neu. In ihrem Mund schmeckte sie Blut, Bauer Schädler, den sie »Vatti« nennen musste, hatte sie mit seinem Ledergürtel ins Gesicht geschlagen, dabei war ihr wohl ein Zahn ins Wackeln geraten. Sie schluckte. Weil sie das hellblaue Bändchen, die Masche für ihren Zopf, nicht mehr finden konnte, schnitt sie sich kurzerhand ein Stück Schnur von einem der Futtersäcke ab. Gerne hätte sie in einen Spiegel geschaut, aber sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie das hätte anstellen sollen. Wenn bloß die Bäuerin keinen Verdacht schöpfte. Verheult wandte sie sich den Kühen zu, es war höchste Zeit, sie anzumelken. Gleich würde Knecht Rüedi Ruhstaller seinen Kopf hereinstecken und wissen wollen, ob alles
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