Die Ruhelosen
Unterricht besuchen durfte und nicht mehr richtig mitkam.
Die Arbeit auf dem Bauernhof laugte sie rasch aus, so dass sie bereits mit vierzehn Jahren noch vor Sonnenuntergang müde war und nicht mehr aufrecht gehen mochte. Um ihre Lippen hatten sich hauchdünne Linien eingekerbt, und auf ihrem Kinn prangte eine dünne Narbe, an der Knecht Ruhstaller Schuld trug oder auch Ferdinand oder Aegidius oder, wer weiß, vielleicht auch einer von »Vattis« Kameraden, den gelegentlichen Kostgängern, mit denen sich die Familie einen Zustupf verdiente und die ab und zu in der Kammer nebenan übernachteten und betrunken an ihre Türe klopften.
»Mauritzli, aufmachen«, war ein Spruch, der sie jedes Mal in null Komma nichts in eine schreckliche Beklemmung versetzte. »Mauritzli, aufmachen«, war auch ein Spruch, den irgendeiner in die Eichenholzplatte des Lehrerpults geritzt hatte, weswegen dieser einmal zum Bauern Schädler vorsprechen gekommen war. Dreißig Schläge mit dem Butterlöffel, und die Sache war gegessen.
im Sommerhoch
Küsnacht, 1910
Seit zwei Jahren nun hatte das Herumziehen ein Ende, und die Zeit des sich alles und jedes vom Mund Absparens, was nur irgendwie entbehrlich, war endgültig und tief im Pfuhl der Vergessenheit versunken, denn seit genau vierundzwanzig Stunden und zwanzig Minuten waren sie stolze Besitzer eines zwillingsgesichtigen Geschäfts- und Wohnhauses mitten im Geschehen an der Dorfstraße, und das an der sogenannten Goldküste: Guerrino und Comsola waren in Küsnacht am Zürichsee endlich zur Ruhe gekommen. Zusammen mit ihren bislang vier Kindern saßen sie auf den sonnigen Steinen des Küsnachter Horns, schauten auf den Zürichsee und ließen die Beine ins Wasser baumeln. Comsola hatte an Umfang ganz schön zugelegt in diesen gebärfreudigen Jahren, und ihre Beckenknochen standen breit wie die einer Kuh, aber noch immer musste Guerrino verlegen lächeln, wenn er seine Frau von der Seite betrachtete: In ihrem einteiligen Badeanzug mit den gerafften Bändchen über den wuchtigen Oberschenkeln mit den Besenreiserchen, ihrer gestreiften Badekappe, die eines Sultans würdig gewesen wäre, und den schmalen schwarzen Riemchen ihrer Badeschuhe, die sich um ihre Fesseln schnürten, sie beinahe ein bisschen, ja, doch, schmunzelte Guerrino, einschnürten, sah seine Frau Comsola Rodope Senigaglia einfach hinreißend aus. Sie verscheuchte mit einem Schlenker des Fußgelenkes eine Wespe von ihrer Wade.
Die Tortur der Haarentfernung, die einem jeden Bade in der Öffentlichkeit vorangehen musste, war rasch vergessen,spätestens als Severino, der jüngste Spross, ein Biondo wie sein Vater und noch kein Jahr alt, vor lauter Freude quietschte und mit beiden Beinchen nach dem Wasser trat. Der älteste, Tullio, und seine beiden Brüder Benedetto und Nunzio planschten in Ufernähe. Es waren an diesem glühenden Tag im Hochsommer 1910 einige Dutzend Frauen, Männer und Kinder am Küsnachter Horn anzutreffen, sie badeten, plauschten, brieten eingekerbte Würste über offenem Feuer. Auch Guerrino hatte ein Picknick mitgebracht, Salami, Prosciutto, Wein und Brot und für die Kinder hartgekochte Eier. Es ging ihnen gut, jeder, der auch nur einen Blick auf sie geworfen hatte, hatte es gewusst: Hier war eine glückliche Familie, deren Strebsamkeit sich ausbezahlt hat. Guerrino glaubte den neidischen Augenaufschlag eines kürzlich aus Vorarlberg zugezogenen Ehepaares – der Mann hatte bei ihm um Arbeit ersucht, vergeblich – auf sich und seiner Kinderschar zu spüren.
Das inoffizielle Bad entlang der Küsnachter Ufernase war sommerlicher Treffpunkt des Mittelstandes, und Guerrino erfüllte es mit heißem Stolz, dass er nun dazugehörte. Er war Hausbesitzer. Zufrieden ließ er seinerseits seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier unter den Augen aller eine verstohlene Heiratsbörse stattfand. So etwas aber auch, wie hatten sie das nur damals in Bergamo, in Marostica gemacht? Die roten, schwarzen, grünen und dunkelblauen Badekleider der Frauen waren modisch aufgepeppt, bunt wie auf einem Bazar! Die eine hatte mit einem silbernen Gürtelchen die Taille, die andere den Saum ihres Kleidchens mit Rüschen verziert, und eine weitere trug sogar einen zusammengestückelten Einteiler, der oben gepunktet und unten gestreift war. Gar manche hatte sich die Bänder der Badeschuhe kreuzweise hoch über die Waden geschnürt, so dass sie wie historische Römersandalen
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