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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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präsentierte sich auf dem wackeligen Rüsttischchen eine geschickt verdrahtete Obstdarre. Auf ihr ruhten Küsnachter Hutzeln – Dörrbirnen, im Ganzen getrocknet mit Stumpf und Stiel –, Feigen, Datteln, Kirschtomaten, allerlei Gattung Steinfrüchte aus dem Ofen sowie ein paar Oliven vom vergangenen Jahr.
    Seit sie in Küsnacht ins Geschäft gekommen waren, ähnelten sich die Tagesabläufe zuverlässig. Guerrino fuhr jeweils am Morgen früh um vier Uhr zusammen mit anderen Händlern mit der Kutsche auf einem Pritschenwagen zum Engros-Markt nach Zürich, um frisches Obst und Gemüse einzukaufen. Nachdem er es im Comestibles-Geschäft untergebracht hatte, pflegte er oben in der Wohnung ein, zwei Stunden der Ruhe. Später stand er stumm und erhaben im Restaurant Falken und dirigierte die Serviertöchter eben auf seine ganz spezifische wortlose Weise nur mit Kopf und Augen. In der Küche hatten sie tagsüber einen Koch angestellt, der einfache lokale Gerichte reichte, abends war sie Comsolas Bühne, auf der sie wunderbare Drei-, Vier- oder Fünfakter der italienischen Gourmetkunst inszenierte. Nur im Herbst machte Guerrino ihr ihren Platz ab und zu streitig, dann eben, wenn er zur Jagd gewesen war und selber Wild servieren wollte.
    Weit nach Mitternacht zogen sich die beiden in ihr Schlafgemach zurück, beseelt von der Glückseligkeit, die einzig das Übersichhinauswachsen mit sich bringen konnte, ein letzter Blick ins Bubenzimmer, ein letztes Mal Ohren spitzen und die zarten Schlafgeräusche der Nachkommenschaft in sich aufnehmen, und endlich löschten auch Comsola und Guerrino das Licht.
     
    »Davvero, das ist wahr. Das Leben hat es gut mit uns gemeint.«

günstige Gelegenheit
    Sankt Immer, 1913
    Als François Schön, wie sich Feri mittlerweile nannte, Mauritzia das erste Mal gesehen hatte, waren ihre Knospen bereits verdorrt. Sie war mit der Familie Schädler am Abendbrottisch gesessen, stumpfsinnig, trüb, und zuckte bei jedem lauten Wort zusammen. Kein schöner Anblick. Aber als sie aufgestanden war und sich über die Spüle beugte, hatte er ihr dann doch hinterhergeluchst. Sie hatte ein Hinterteil, das konnte man nicht übersehen, selbst nicht, wenn man frisch von Paris kam und dort allerlei Frauenzimmer gewohnt war.
    Das war vor etwa fünf Jahren gewesen, irgendwann im Winter 1907 auf 1908.
    Damals hatte François angefangen, sich in der Schweiz umzusehen, dem Land, in dem einst am 9. September 1898 der Italiener Luigi Lucheni mit einer selbstgebastelten Feile der Kaiserin von Österreich und Ungarn, Sisi, einen tödlichen Stoß ins Herz versetzt hatte.
    François’ Geschäft in Paris ging zwar gut, aber er hatte doch das Gefühl, dass in der Schweiz dem Handel mit Kammwaren noch mehr abzugewinnen wäre. Zudem sagte ihm sein siebter Sinn, dass Europa bald nicht mehr Europa wäre, jedenfalls nicht in der Gestalt, wie man es kannte. Er wollte rechtzeitig den Absprung schaffen. In der Gegend von Montmartre belegte sein Geschäft »François S. – Posticheur d’Art – Hors Concours« zwei Stockwerke eines schmalen Häuserblocks, jede Pariserin, die etwas auf sich hielt, musste einfach Haarteile besitzen, die sie sich nachBelieben und je nach Anlass anstecken lassen konnte. Reichtum wurde über das Volumen des Kopfes zur Schau gestellt: je mehr Haare auf dem Kopf, je angesehener, und François lieferte an die Friseure von Paris jeden einzelnen Buchstaben des Haarteilalphabets, den man für diese Sprache des Luxus brauchte. Er hatte seinen eigenen Telefonanschluss, einen wuchtigen Wandapparat mit Kurbel, und der Draht glühte. Der Entschluss, den er noch als halber Junge gefasst hatte, Miskolc auf schnellstmöglichem Weg zu verlassen und so bald nicht mehr zurückzukehren, wenigstens nicht, bevor er nicht ein Arrivierter war, hatte sich für ihn ausbezahlt. In Paris war er an die richtigen Leute gelangt, Frauen, um genau zu sein, die ihm den Start erleichterten mit Krediten, auf deren Rückzahlung keine bestand. Wohl auch, weil keine von der anderen wusste und sich jede im Glauben wiegte, die Einzige zu sein.
    Sein Sortiment umfasste bald über tausend Artikel, und die Vision, damit in die Schweiz auszuwandern und weiter zu vergrößern, trieb ihm die Tränen der Gier in die Augen.
    Und so reiste er nun kreuz und quer durch die Schweiz, besuchte Genf, Lugano, Basel, Zürich, Bern und knüpfte erste Kontakte zu den Friseuren dieses mystischen Kleinstaates. Nur gut, dass es unter den Friseuren selbst so viele

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