Die Runen der Erde - Covenant 07
»Davon kann ich nichts erkennen. Anscheinend quälen sie das Land seit sieben oder acht Dutzend Jahren. Nicht viel länger, vermute ich.«
»Und du?«, fragte Linden. »Wie alt bist du?«
Anele sackte in sich zusammen, als hätte ihre Frage ihn verkleinert. »Die Steine wissen es nicht.« Aus seinem Tonfall war unterschwellige Verbitterung herauszuhören. »Auch ich stamme aus neuerer Zeit. Und ich kann dir nicht antworten. Meine Erinnerung ist getrübt. Sind meine Eltern umgekommen? Habe ich mein Geburtsrecht aus den Händen von Sterbenden empfangen?« Er seufzte nochmals. »Ich bin mir dessen nicht sicher.«
Je mehr er sprach, desto verwirrter schien er zu werden.
»Aber du hast gesagt, dass die Zäsuren Jagd auf dich machen«, wandte Linden ein. »Existieren sie seit hundert Jahren, müssen sie vor deiner Geburt entstanden sein. So alt bist du noch nicht.«
»Habe ich das gesagt? Schon möglich.« Seine Verbitterung wurde allmählich zu Trauer. »Mein Verstand wandert zuzeiten. Jedenfalls hätten sie das Land nicht bedroht, als ich geboren wurde.« Sein Kopf sank noch weiter zur Seite, als fehle ihm die Kraft, ihn aufrecht zu halten. »Trotzdem kann ich nicht so alt sein. Ich bin über das Maß des Erträglichen hinaus verfolgt worden, war einsam und allein; meine Füße schmerzten, ich war zerschlagen und hungrig bis ins Mark. Es ist unmöglich, dass ich so lange gelebt habe. Mein Fleisch hätte es nicht ertragen.« Leise schloss er: »Die Zäsuren haben es nicht auf mich abgesehen. Ich stelle kaum eine Gefahr für den Grauen Schlächter dar. Trotzdem fürchte ich sie mehr als alles andere. Erwischen sie mich, bin ich verdammt und verloren.«
Während Anele sprach, wuchs Lindes Frustration. Er war geboren, bevor die Zäsuren aufgetreten waren – und trotzdem waren sie älter? Unmöglich. Sie durfte seiner scheinbaren Zurechnungsfähigkeit offensichtlich nicht trauen. Sein Verstand war in voneinander getrennte Fragmente zersplittert, und er hatte die Fähigkeit eingebüßt, sie zu einem sinnvollen Ganzen zu vereinigen. Sie hielt inne, um neue Entschlossenheit zu sammeln, und beobachtete dabei die Hügel und die Trümmerwüste. Wenn oder falls jemand kam, um den eingestürzten Kevinsblick zu begutachten, wollte sie nicht überrascht werden. Dann konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Anele. »Was tun sie«, fragte sie, »diese Zäsuren? «
»Sie trennen«, antwortete er. »Verwerfen. Genauer kann ich es nicht beschreiben. Acht Dutzend Jahre sind eine zu kurze Zeit. Die Steine sprechen nicht deutlich davon.«
Trennen? Verwerfen? Ärger drängte sie, ihre Zurückhaltung aufzugeben. Sie überwand ihn mühsam. »Die Steine sprechen zu dir? Du kannst in ihnen lesen?« Trotz Kevins Schmutz? Verlieh die angeborene Erdkraft ihm diese Fähigkeit?
Er wandte sich ihr nun ganz zu. Seine weißen Augen erschienen ihr wie geschlossene Jalousien, hinter denen die seltsamen Räume seines Verstandes lagen. »Sieh dich um«, sagte er mit einem Anflug seiner anfänglichen Ungeduld. »Die Wahrheit ist hier überall sichtbar.«
Sichtbar!, ächzte sie stumm. Für dich vielleicht, aber nicht für mich.
Auf entscheidende Weise war sie ebenso blind wie ihr Gefährte. Und sie fühlte sich so schwach ... sie hatte seit einigen Stunden nichts gegessen, auch nichts getrunken. Und seither war sie bis an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit beansprucht worden. Sie fragte Anele nur weiter aus, weil sie sich nicht vorstellen konnte, wo sie Essen oder Wasser hätte finden sollen. »Also gut«, murmelte sie. »Du weißt bereits, dass ich nicht lesen kann, was auch immer in den Steinen geschrieben steht.« Derlei hatte sie noch nie gekonnt. »Lassen wir das. Vorhin hast du gesagt, das Gesetz des Todes sei gebrochen worden. Und das Gesetz des Lebens. Was hast du damit gemeint?«
»Nur das, was alle Leute wissen.« Seine Ungeduld wuchs mit jeder Antwort; vielleicht war er ebenso frustriert wie Linden. Als rezitiere er einen Teil einer Liturgie, leierte er herunter: »Hoch-Lord Elena hat Kevin Landschmeißer aus dem Reich des Todes zurückgeholt. Sie hat das Blut der Erde getrunken und ihm mit der Macht des Befehls ihren Willen aufgezwungen. So wurde die Grenze, die das Ende des Lebens bezeichnet, durchlässig gemacht. In ihrer Torheit verstieß sie gegen das Gesetz des Todes.«
Das hatte Linden schon von Thomas Covenant gehört.
»Das Gesetz des Lebens ...« Aber dann wusste Anele nicht weiter. Er schwieg einen Augenblick,
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