Die Runen der Erde - Covenant 07
schlug sich mit beiden Händen gegen den Kopf; dann rieb er sich grob das Gesicht. »Lese ich oder erinnere ich mich? Nichts ist sicher, nichts ist gewiss. Habe ich eine Geschichte gehört? Erinnern die Steine sich?« Seine Ungeduld verschwand, wich tiefem Kummer. »Ich bin an allem schuld. Alles dies ... Kevins Schmutz und die Zäsuren, die Meister und das gefürchtete Feuer der Skurj. All die Schmerzen des Landes. Alles meine Schuld.«
Von seiner Verzweiflung erschüttert, streckte Linden eine Hand aus, um ihn zu trösten, aber er schlug sie beiseite.
Gott steh mir bei, dachte sie. Beschütze mich vor Leuten, die sich selbst bestrafen. Sie selbst hatte zu viel Zeit damit verbracht, genau das zu tun. Sie setzte noch einmal neu an: »Also gut. Lassen wir das. Ich kann weiterleben, auch ohne es zu wissen. Erklär mir nur, was das Gesetz des Lebens ist .« Die Antwort kannte sie schon. Sie wollte lediglich, dass er weitersprach, während sie ihren Mut sammelte.
»Es ist Hoffnung und Grausamkeit«, deklamierte er mit weithin hallender Stimme, »Erlösung und Verderben. Es ist die Grenze, die das Ende des Todes bezeichnet.«
Linden war in Andelain dabei gewesen, als Sunder und der letzte Forsthüter Hollian ins Leben zurückgeholt hatten – und mit Hollian ihr ungeborenes Kind. Seit jener gefahrvollen Nacht waren, so vermutete sie, im Land Jahrtausende vergangen. Es hatte nichts mit Anele zu tun, konnte nichts mit ihm zu tun haben; und Linden konnte sich auch nicht vorstellen, dass die damaligen Ereignisse sich auf ihr jetziges Dilemma auswirken könnten. Seiner ganzen Natur nach hätte der von ihr geschaffene neue Stab des Lebens die teilweise aufgehobenen Grenzen zwischen Leben und Tod wieder stabilisieren sollen. Und diejenigen, die ihn gebraucht hatten – Sunder, Hollian und ihre Nachkommen –, hätten den Wunsch gehabt, die grundlegende Gesundheit des Landes wiederherzustellen. Durch ihren Gebrauch des Stabes hätten die Risse, die die Lebenden von den Toten trennten, längst verheilt sein müssen. Übel wie Kevins Schmutz und Zäsuren hätten in Gegenwart des Stabes des Gesetzes nicht existieren dürfen. Linden schüttelte stumm den Kopf. Hatten ihre Bemühungen für das Land denn letztlich nichts bewirkt? Jeder Satz, den Anele sprach, entfernte sie weiter von der Normalität. Sie fragte scharf: »Und du hast etwas damit zu schaffen gehabt? Es war deine ›Schuld‹?«
Als Reaktion darauf tastete Anele nach den Seiten ihres Gesichts; seine Hände zitterten wie im Fieber. »Sieh dich um!«, rief er. »Betrachte die Steine!« Seine Augen brannten, als sei er vor Abscheu und Entsetzen erblindet. »Quäle mich nicht so.«
Um ihn zu beruhigen, schlug Linden wieder einen sanfteren Tonfall an. »Hat das Gesetz des Lebens etwas mit deinem Geburtsrecht zu tun? Du sagst, dass du irgendwie versagt, dein Geburtsrecht verloren hast. Willst du es dir zurückholen? Meinst du das, wenn du von Hoffnung sprichst?« Linden versuchte, sich aus Aneles Worten einen Reim zu machen, aber nichts von alledem ergab für sie irgendeinen Sinn.
Anele wimmerte leise; dann ließ er sie ruckartig stehen, hastete über die Felstrümmer davon, ohne auf seinen alten Körper, seine spröden Knochen zu achten. Sie rief ihm nach, er solle stehen bleiben, aber er hörte nicht, tastete nach Griffen und Tritten und flüchtete so schnell, wie seine schlechte körperliche Verfassung es ihm erlaubte.
Linden sah sich nochmals um. Hatte er irgendeine Gefahr gespürt? Aber sie sah nichts, was sie hätte alarmieren müssen. Himmel und Sonne hingen über den stillen Hügeln, als könnte nichts sie berühren. Und doch war sie sich sicher, dass der Alte nicht vor ihr floh. Er flüchtete wegen der Frage, die sie ihm gestellt hatte. »Anele!«, rief sie noch einmal. »Warte!« Dann setzte sie sich leise stöhnend in Bewegung, um ihm zu folgen.
Ihre Prellungen hatten zu pochen begonnen, was ihre Ausdauer beeinträchtigte. Da sie sich nicht flink bewegen konnte, konzentrierte sie sich stattdessen darauf, ihre Füße gut zu platzieren und sich so mit den Händen abzustützen, dass sie nicht ausrutschte oder stolperte. Wünschte Anele ihren Schutz, würde er auf sie warten, sobald seine Verzweiflung sich legte. Und wenn er es nicht tat ...
Dann stellte er dennoch ihre einzige Verbindung zur Gegenwart des Landes dar, und sie würde ihm weiterhin folgen müssen. Als sie die Hälfte des Trümmerfeldes überwunden hatte, blickte sie auf und sah Anele wenige
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