Die Runen der Macht - Der verfluchte Prinz (German Edition)
inne, um die Künstler zu beobachten, die am nördlichen Rosettenfenster arbeiteten – sie setzten die Scheiben wieder ein, die sie geborgen hatten, und vervollständigten sie mit neuen Teilen.
»Sorcha!« Die vertraute Stimme riss sie aus ihrem melancholischen Gedankengang.
Ein hochgewachsener Mann trat stockenden Schritts mit staubbedeckten Händen aus dem Halbdunkel.
»Garil.« Sie lächelte beglückt. »Was tust du hier?«
Kaum musterte er sie mit seinen grauen Augen, wusste Sorcha, dass sie nichts vor ihm verbergen konnte; weder die leicht hängenden Schultern noch das winzige Stirnrunzeln. Doch anders als bei den meisten Sensiblen störte es sie nicht, dass er sie beobachtete. Garil war ihr erster Partner gewesen, hatte aber dennoch und trotz aller Geschehnisse weiter große Achtung vor ihr. Was sie stets aufs Neue schockierte.
»Kleiner Rotschopf.« Er kam angehumpelt und nahm sie ungestüm in die Arme. »Sie haben mich aus meinem winzigen Kloster geholt. Mit Unsinn, dass sie meine Fähigkeiten für dieses Projekt benötigen.«
Seit Pareth, der Jugendpresbyterin in Sorchas Kindheit, hatte niemand ihr mehr einen Spitznamen zu geben gewagt, aber bei Garil war es irgendwie akzeptabel. Sorcha schlang lachend die Arme um ihn, bis sie bemerkte, wie dünn er unter den dunkelgrauen Roben war. Sie spürte jeden einzelnen Knochen. Garil war einer der wenigen Sensiblen, die wegen einer Verletzung in den Ruhestand hatten gehen müssen. Schuld waren nicht die Unlebenden gewesen, aber wenn sie die Täter jemals fände, würden sie bald Unlebende sein.
»Wie geht es dir, Garil?« Sie erwiderte seine Umarmung sanft, weil sie Angst hatte, ihm wehzutun.
»Na ja, du weißt schon.« Er zuckte die Achseln, eine unbeholfene Bewegung. Sosehr die Ärzte sich auch bemüht hatten – sein gebrochenes Becken und der gebrochene Rücken waren nie richtig verheilt. »Es ist noch immer ein seltsames Gefühl, nach so langer Zeit in Smaragdgrün das Grau zu tragen.«
Er hätte in Delmaire bleiben sollen, hatte aber stattdessen darauf bestanden, sich der Expedition des Kaisers anzuschließen. Er war damals schon alt gewesen, aber immer noch einer der großen Sensiblen seiner Epoche. Ihre Verbindung als Partner war sehr stark gewesen.
Sorcha räusperte sich; sie spürte seinen Kummer wie ihren eigenen. Für dienstuntauglich erklärt zu werden und die dunkelgrauen Roben des pensionierten Diakons zu tragen war ein Genuss, in den nur wenige kamen, aber es war offensichtlich, dass Garil daran keine Freude hatte. Sie konnte ihm keinen Vorwurf machen; der Rausch eines Geisterkampfs machte süchtig.
»Ich war in der Krankenstation, als sie Kolya gebracht haben.« Der ältliche Diakon schüttelte den Kopf. »Überaus unglücklich, in so einen Aufruhr zu geraten.« Er blickte ins Unbestimmte und dachte zweifellos an seine eigene dunkle Nacht in der Gasse zurück. Warum jemand einen so freundlichen Mann fast zu Tode geprügelt hatte, war immer noch ein Rätsel.
Allmählich wurde deutlich, dass niemand den Geist erwähnen würde, der keinen Regeln gehorchte; und auch dass Sorcha Teisyat geöffnet hatte, wurde offenbar beschwiegen. Anscheinend sollte den Sesselfurzern in der Abtei jede Aufregung erspart bleiben.
»Ja«, flüsterte sie. »Sehr unglücklich.« Sie blickte zu dem schönen Rosettenfenster auf und versuchte, das Thema zu wechseln. »Wie geht’s mit der Restaurierung voran?«
Garil lachte kurz und gab damit mehr als nur eine Spur Bitterkeit zu erkennen. »Die wissen hier wirklich nicht, was sie mit einem alten Diakon anfangen sollen.« Er beugte sich verschwörerisch vor. »Meiner Ansicht nach hat der Erzabt geglaubt, ich würde da draußen in der Wildnis langsam verrückt werden, und sich Sorgen gemacht, ich könnte zu viele Dinge sagen.«
Sorcha zuckte die Achseln. »Nun ja, du hast viel Erfahrung, etwas, das uns so fern von Delmaire fehlt. Du weißt, wie man Leute dazu bringt, etwas zu tun.«
Garil seufzte. »Selbst unser geliebter Kaiser hat Jahre damit verbracht, den Palast zu restaurieren – also sollte ich nicht murren.«
»Da folgst du einem ausgezeichneten Vorbild.«
Ihr ehemaliger Partner nickte langsam, aber sie spürte, dass er etwas zurückhielt. Zu jeder anderen Zeit hätte sie ihn danach gefragt, aber sie hatte genug um die Ohren und musste sich nicht noch um Ärger bemühen. Jedenfalls nicht heute. Um ihn abzulenken, schnitt Sorcha daher sein Lieblingsthema an. »Meinst du, der einheimische Orden würde
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