Die Runen der Macht - Der verfluchte Prinz (German Edition)
durch die Mutterabtei zu gehen.
Sie setzten ihren Weg in nachdenklichem Schweigen fort. Sorcha bekam die Bilder, die sie in der Möglichkeitsmatrix gesehen hatte, nicht aus dem Kopf. Feuer war eins der wahren Elemente der Geistherren, und sollte Vermillion brennen, konnte das nur eines bedeuten: Jemand wollte verdammt viele von ihnen entfesseln.
Die Geschichte wimmelte nur so von Verrückten, die versucht hatten, in die tiefste Anderwelt zu gelangen. Jedes Mal hatte es für den Beschwörer und meist auch für viele Unschuldige in einer Katastrophe geendet.
Sorcha war so in diese düsteren Gedanken versunken, dass sie sich an Raed schmiegte. »Nicht jetzt«, witzelte er, als sie seine Kniehose streifte. »Merrick sagt, vor uns liegt viel Wasser. Sollen wir riskieren zu schwimmen?«
»Wir haben keine große Wahl, wenn wir nicht durch die Abtei zurückkehren wollen«, sagte sie und hatte plötzlich das Gefühl, die Wände kämen immer näher.
Sie schwammen, tauchten unter dem Gestein hindurch und erreichten das eisige Wasser der Lagune. Sorcha spürte beim Abtauchen, wie sich ihr die Brust zuschnürte, als würde jemand darauf sitzen. Ihre Muskeln spannten sich, während sie sich darauf konzentrierte, kein Wasser in die Lungen zu bekommen. Für einen Moment fühlte es sich an, als wären ihre Arme und Beine aus Blei und als würde sie einfach auf den Grund der Lagune sinken. Dann kam die Verbindung zu Merrick und Raed zustande, denen sie wie einem Kompass folgte. Mit unangenehm prickelnder Haut kam sie neben ihnen wieder an die Oberfläche, als sie im frühmorgendlichen Grau der Stadt auftauchten.
Gemeinsam schwammen sie zu einem leeren Pier. Offenbar waren sie nur wenige Straßen von der Abtei am Prinzenkanal entfernt. Die in der Nähe dümpelnden Boote waren im leuchtenden Orange der Wassertaxis gestrichen, aber so früh am Tag war noch kein Fährmann zu sehen. Mitten in Vermillion gab es vor Sonnenaufgang keinen Handel. Und Aktivitäten, die der Dunkelheit bedurften, fanden weit draußen in den Randgebieten statt, die diese nur im Zentrum zugelassenen Fähren nicht ansteuern würden.
Kaum hatten sie sich auf den Pier gezogen, stieß Merrick mit klappernden Zähnen hervor: »Wir … wir hatten Glück, dass die Lagune nicht … nicht zugefroren war.«
»Ja«, keuchte Raed und wrang seinen Umhang aus. »Verdammtes Glück.«
Sorcha tat das Gleiche mit ihrem Haar, bevor sie es im Nacken wieder hochband. Es kam jetzt darauf an, immer nur an den nächsten Schritt zu denken. Sollte sie versuchen, das Gesamtbild zu erfassen, würde sie vielleicht einfach zusammenbrechen. Wenn sie die Möglichkeiten ändern wollten, die sie in der Matrix gesehen hatten, mussten sie mit höchster Effizienz arbeiten – Zweifel konnten sie sich da nicht leisten. »Jetzt müssen wir die anderen in diesem Gasthaus suchen und in die Ziegelbrennerstraße gehen. Es lässt sich nicht sagen, wann die Ereignisse stattfinden.«
Raed nickte und lächelte dann boshaft. »Soweit ich die Gewohnheiten der Adligen kenne, wird das nicht allzu bald geschehen. Sie gelten nicht gerade als Frühaufsteher.« Er reckte den Hals über die Boote und sprach das Problem aus, das Sorcha im Moment zu schaffen machte. »Aber wie kommen wir zu dem Gasthaus? Mit normalen Beobachtern werde ich fertig, aber diese Sache mit der Sicht …«
»Ich habe eine Idee.« Merrick hob einen Lederbeutel, in dem sich eine sehr vertraute Dose abzeichnete.
Sorchas Hände flogen an ihre Taschen. Es war tatsächlich der Behälter, in dem sie ihre Zigarren aufbewahrte. »Wie habt Ihr …«
»Aber, aber.« Die Augen des jungen Mannes glänzten vor Vergnügen, weil es ihm gelungen war, sie zu täuschen. »Einige von uns wurden nicht von der Abtei erzogen – einige von uns haben vorher das eine oder andere gelernt.«
Er zog die Dose aus dem Beutel und öffnete sie. Darin waren nicht die beiden letzten Zigarren, die Sorcha dankbar als Geschenk von Ulrichs Bürgern entgegengenommen hatte, sondern ein Häufchen weißer Steinstaub aus der Höhle.
Trotz ihrer schlimmen Lage spürte sie Zorn aufsteigen. »Wo sind meine Zigarren, Merrick?«
»Der Staub durfte nicht nass werden, und glaubt mir, er könnte uns retten …«
Sie riss ihm die Dose aus der Hand und starrte verzweifelt auf das Häufchen Staub. »Wo – wo sind die Zigarren?«, stieß sie hervor. Sie hatte geplant, sich eine Verschnaufpause zu gönnen, und sei sie auch kurz, bevor sie in die Ziegelbrennerstraße aufbrachen.
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