Die Runen der Macht - Der verfluchte Prinz (German Edition)
das unlebende Wesen in dem Mädchen musterten einander, sie mit kühler Professionalität, die Kreatur mit unverhohlenem Hass.
Schließlich konnte sich der Prätendent nicht länger beherrschen. »Was ist los?«
Der Blick des Mädchens fiel auf Raed, und es fuhr knurrend auf, wurde von den Ketten aber mit einem Ruck wieder zu Boden gerissen. Gut, dass die Eltern wachsam gewesen waren.
»Ein Poltergeist, denke ich.« Sorcha, die schnell zurückgetreten war, saß jetzt zwei Schritte von dem um sich schlagenden Mädchen entfernt auf dem Boden.
»Aber warum …« Er räusperte sich. »Was ist mit dem Rossin?«
»Dieser Geist ist tief in ihrem Inneren begraben und kaum in dieser Welt. Wie ein parasitärer Wurm. Ihr dürftet ziemlich sicher sein.«
Er trat hinter sie, nahm ihre Bitte um Rückendeckung also offenbar wörtlich. »Und was ist mit dem Mädchen?«
Anais Mund verzog sich, doch es kamen keine Worte heraus. Poltergeister waren nicht sonderlich redselig. Stattdessen wurde es noch kälter: ein Versuch, sie zu vertreiben, ohne zu viel Energie aufzuwenden oder seinen Aufenthaltsort zu verraten.
Die Diakonin warf Raed einen scharfen Blick zu. »Leise sein, hab ich gesagt.«
Er befolgte den Wink und trat zurück ins Halbdunkel. Sorcha musste die ungeteilte Aufmerksamkeit des Geists gewinnen. Sie ließ ihr Zentrum fallen und konzentrierte ihre Sicht auf die Kreatur. Es war schwer, in ein besessenes Wesen zu schauen. Der Geist konnte sich tief in der Psyche eines Menschen verstecken, und ein Kind war noch komplizierter.
Die sich wandelnden Facetten einer Persönlichkeit, die noch im Entstehen war, boten ein ideales Versteck, und darum waren Kinder bevorzugte Opfer der Poltergeister. Sorcha wusste sofort, dass sie schlecht gerüstet war, um die Stärke dieses Poltergeists mit ihrer Sicht einzuschätzen. Der hohle Raum, wo Merrick hätte sein sollen, fühlte sich jetzt noch leerer an.
Schließlich holte sie ihr Zentrum ein und ließ sich mit ärgerlichem Seufzer zurückfallen. Der Geist tanzte unterdessen in den Augen des Kindes und wirkte selbstgefälliger als eine Katze mit einer Maus im Maul.
»Was ist los?« Raed schritt auf und ab und zeigte, wie nervös es ihn machte, einem Geist so nahe zu sein. Sorcha konnte das verstehen.
Ohne Erklärung stand sie auf und ging aus dem stinkenden Keller ins Haus, eine willkommene, wenn auch nur kurze Erholung für ihre Geruchsnerven. Überall herrschte Unordnung. Die Familie war gezwungen gewesen, die Vorräte in den Wohnräumen zu lagern. Die Mutter musste mit einem besessenen Kind und einem Haus fertigwerden, in dem sie sich kaum bewegen konnte.
Sorcha kletterte über Kisten in die Küche, um etwas Schweres, aber Unauffälliges zu suchen. Die Schublade mit Messern und Besteck verwarf sie sofort, weil sie einen Geist nicht damit bewaffnen wollte. Alles Zerbrechliche wie Steingut konnte ebenfalls tödlich sein und war nicht schwer genug. Schließlich entschied sie sich für einen gusseisernen Kochtopf, der in besseren Zeiten vermutlich zum Einmachen von Marmelade gedient hatte.
Als sie Raed entdeckte, der dastand und sie beobachtete, musste sie kichern. »Habt Ihr Angst, mit einem kleinen Mädchen allein zu sein?«, fragte sie, während sie sich mit dem Kochtopf mühte. Er war so groß, dass man das Kind darin hätte kochen können.
»Ganz und gar nicht«, gab er zurück. »Ich schaue Euch nur einfach gern zu.« Sie bedachte ihn mit einem Blick, der Blei hätte schmelzen können, bis er den Fingerzeig verstand und ihr den großen Topf in den Keller schleppen half.
Die glänzenden Augen des Poltergeists starrten sie mit sichtlichem Vergnügen an. Nichts machte einem Geist mehr Spaß, als einen Diakon mattzusetzen.
»Wozu soll der nur gut sein?«, brummte Raed, während sie den Topf wenige Schritte vor der Bewohnerin des Kellers abstellten. »Habt Ihr vor, Marmelade zu zaubern, während wir hier sind?«
»Ihr werdet schon sehen.« Sie wies mit dem Kopf auf das Mädchen, um ihn daran zu erinnern, dass sie nicht allein waren.
Dann streifte sie ihre Handschuhe für den Fall über, dass die Sache schiefgehen sollte. Des Mädchens und des Hauses wegen hoffte Sorcha, alles werde glattlaufen, doch sie wappnete sich, notfalls Aydien zu benutzen.
Im Gegensatz zu Merricks Sicht war ihre begrenzt. Die Diakonin konnte die Stärke des Poltergeists, der sich in dem Mädchen versteckte, nicht einschätzen. Das zu wissen, wäre aber wichtig. Wenn sie versuchte, einen mächtigen
Weitere Kostenlose Bücher