Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
Abwesenheit schwer herstellbar war.
»Es tut mir leid«, flüsterte Sorcha, als sie Tryrei öffnete, das Guckloch zur Anderwelt. Was sie dort finden würden, konnte sie nicht sagen, aber es war der Weg, den Seelen gehen mussten, wenn sie Frieden finden wollten. Der kleine, goldene Lichtstrahl durchdrang die Realität, und die Seelen schwebten darauf zu.
Vielleicht gab es Götter, die auf sie warteten – Sorcha wünschte, sie könnte das glauben. Vielleicht war es ein Ort der Prüfungen, bevor sie wiedergeboren werden konnten. Zumindest aber wären die erschlagenen Frauen nicht dazu verdammt, auf Erden zu wandeln und erneut ihren Tod zu durchleben.
Sorcha sah ihnen nach und schloss dann die Faust um die Rune. Dies waren nicht die ersten Menschen, die sie nicht hatte retten können – und es würden nicht die letzten sein.
Mit einem leisen Seufzer beugte die Diakonin sich vor und schloss Lisahs Augen. Dabei schmierte sie ihr Blut ins Gesicht, verlieh ihr aber immerhin den Anschein von Frieden.
In diesem Moment stießen die Eunuchenwachen die Tür auf. Einige Sekunden lang starrte Sorcha sie an, während die Männer den Raum in Augenschein nahmen. Bücher lagen verstreut auf dem Boden, Regale waren umgeworfen worden, es gab drei zerfetzte Frauenleichen, und sie saß mittendrin – von Blut und Eingeweiden besudelt.
Diakone wurden als notwendig betrachtet, doch es war durchaus schon vorgekommen, dass sie plötzlich und auf spektakuläre Weise wahnsinnig geworden waren. Das Hospital der Mutterabtei hatte einen ganzen Flügel für die Pflege und Bewachung dieser armen Wesen. Im ganzen Reich gab es keinen gefährlicheren Wahnsinnigen als einen Diakon.
Dann begriff Sorcha, wie es den Neuankömmlingen erscheinen musste. Sie hatte darum gebeten, die drei Frauen sprechen zu dürfen; sie hatte verlangt, dass man sie allein ließ. Die chiomesischen Wachen mochten zwar ihre eigenen Diakone respektieren, aber sie war eine Fremde – eine Fremde, die ihre Handschuhe trug und im Blut der Frauen des Prinzen badete.
Die Gewehre in den Händen der Wachen wirbelten herum und wurden angelegt. Der größte Eunuch, der die Frauen hergebracht hatte, bleckte die Zähne, und auf seiner Stirn zogen Gewitterwolken auf. Diese Frauen waren seine Schutzbefohlenen, daher wusste sie, dass er keine Fragen stellen würde.
Diese Männer hatten seit Wochen die Schande der Morde in ihrer Umgebung getragen – und jetzt wurde ihnen eine Schuldige auf dem Silbertablett präsentiert. Eine tote Diakonin würde einen bequemen Sündenbock abgeben, den sie vor ihren Prinzen zerren konnten. Tot wäre besser als lebendig.
Ohne ein Wort des Protests sprang Sorcha über Lisahs Leiche hinweg Richtung Innenwand. Anders als der Rossin konnte sie einen Sprung aus dem Fenster nicht überleben – aber eine Flucht in die Stadt war eine sehr gute Idee. Sie hatte nicht die Absicht, mit den Wachen ein Risiko einzugehen – oder gar mit dem Prinzen, der angesichts des Todes seiner Frauen sicher nicht gnädig gestimmt sein würde.
»Feuer!«, brüllte der oberste Eunuch, und die Diakonin warf sich zu Boden, als Kugeln über die chaotische Szene zischten. Glücklicherweise hatten diese Wachen offenbar selten Gelegenheit gehabt, auf etwas zu schießen.
Mit ausgestrecktem Handschuh und Voishem auf der brennenden Handfläche sprang Sorcha durch die Wand. Es war eine höchst unelegante Anwendung ihrer Ausbildung.
Das Geräusch von Kugeln, die in Lehm einschlugen, war das Letzte, was sie hörte, als sie die Wand durchdrang und auf die andere Seite fiel. In dieser Situation blieb keine Zeit, einen Ort zu finden, wo sie das Blut abwaschen und nachdenken konnte. Sorcha wusste, dass sie Voishem weiter benutzen musste, bis sie den Palast hinter sich gelassen hatte und in der Stadt war.
Die Diakonin wagte nicht, stehen zu bleiben, denn schon bald würde die ganze Stadt in Aufruhr sein und nach der Fremden suchen, die wahnsinnig geworden war und Frauen aus dem Harem des Prinzen abgeschlachtet hatte. Schon jetzt hörte sie schwach die Alarmglocke des Palasts läuten. Im Griff von Voishem nahm sie alles nur undeutlich wahr. Menschen erschienen ihr als graue Schatten, und der Palast hatte etwas Unwirkliches und ähnelte eher der Skizze eines Künstlers.
Sorcha wusste, dass sie den Rossin finden und sein Wüten um jeden Preis beenden musste – außer ihr hatte einfach niemand eine Chance, die Bestie unter Kontrolle zu bringen. Also stürmte sie durch den Palast und hörte
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