Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
schnurstracks auf die Empfangsgemächer des Erzabts zuhielt. Sich mit Rictun anzulegen, war niemandem zu raten. Merrick rief ihren Namen. Er hallte von der Decke des Kreuzgangs wider, und mehrere ihrer Mitdiakone schauten auf. Erstaunlicherweise blieb sie tatsächlich stehen.
»Nicht dorthin – bitte, Sorcha!« Es scherte ihn nicht, wer ihn hörte, denn über sie wurde ohnehin bereits in der ganzen Abtei geredet.
Ihre Blicke trafen sich, und sie war es, die zurückwich. Ihre Hände ballten sich in den Saum ihres Umhangs. Dann betrat sie den Andachtsraum. Vor der Ankunft der Geister war dies eine Kirche gewesen – ein Ort zur Anbetung der Götter. Jetzt fanden dort Versammlungen, Sitzungen und Übungen statt, um die Unlebenden zu bekämpfen. Doch als sie das Herz der Abtei betraten, wurde Merrick vom Anblick der hohen Decke, der schönen Buntglasfenster und sogar der Statuen der Diakone des Alten Ordens tief berührt. Er liebte die Gottesdienste, die sie hier abgehalten hatten, die Worte der Weisheit der anderen Ordensmitglieder, die Geschichten über die Vergangenheit – all das. Es schenkte ihm Frieden, und er hoffte, dass es seiner Partnerin genauso ging.
Es war ein Zeichen von Sorchas Fassungslosigkeit, dass sie sich in eine der Kapellen am Rande des großen, überwölbten Raums ziehen ließ, der den Andachtssaal bildete. Merrick konnte ihr die Verwirrung an der angespannten Mundpartie ansehen und an der Art, wie sie seinen Blick vermied.
»Ich habe ihn sterben sehen.« Sie flüsterte, damit sie in dem riesigen Raum nicht zu hören war. Dann blickte Sorcha mit unsicheren blauen Augen zu ihm empor – vielleicht fürchtete sie die Antwort ihres Partners.
»Ich habe es auch gesehen!« Merrick berührte sie an der Schulter, und für eine Sekunde bewegte sie sich nicht.
Dann glitt sie aus seiner Berührung, lehnte sich an die graue Steinwand und beobachtete durch das bunte Glasfenster die Laienbrüder, die im Garten fleißig damit beschäftigt waren, die Früchte des Spätsommers zu ernten. »Aber Ihr denkt vermutlich, dass es bedeutungslos ist?«
»Ich denke« – Merrick schob sich die Hände in den Umhang – »dass es dumm wäre, diese Botschaft zu ignorieren.«
Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Es war Nynnia, die sie überbracht hat.«
Merrick schüttelte den Kopf, voller Furcht und Hoffnung. »Ich weiß nicht, ob das überhaupt möglich ist – wir verstehen immer noch nicht, was sie war.«
»Aber wenn es wahr ist?«, gab Sorcha zurück. »Wenn Nynnia in der Anderwelt ist und möchte, dass wir Raeds Ermordung verhindern?«
Draußen begannen die Glocken zu läuten und riefen die Eingeweihten zum Unterricht. Merrick hatte selbst noch vor Kurzem dazugehört, und doch bereitete er sich jetzt darauf vor, gegen alles, was er in den Jahren seiner Ausbildung gelernt hatte, zu verstoßen. Zum wiederholten Male. Doch auch er war an Raed gebunden und wusste, dass er ein guter Mann war.
Also lächelte er seine Partnerin an. »Dann lasst uns genau das tun.«
Das Strahlen von Sorchas Lächeln hätte Wintereis zum Schmelzen bringen können.
Merrick hob die Hand. »Unter einer Bedingung – ohne vernünftige Vorbereitung werden wir nicht losrennen.«
Sorchas Lippen zuckten, aber sie deutete eine Verbeugung vor ihm an. »Wie es Euch beliebt, Mylord Chambers.«
Diese Geste beschwor längst vergessene Erinnerungen herauf, die er mühsam unterdrückte. Mit einem Hüsteln wandte er sich ab. »Begeben wir uns in meine Zelle und schauen wir, ob wir herausfinden können, was diese Botschaft wirklich bedeutet.«
Zu dieser Tageszeit herrschte im Dormitorium Stille, da die meisten Diakone Dienst taten, aber einige zogen sich in ihre Zellen zurück, um zu lernen oder mit den Talismanen ihrer Kunst zu meditieren. Sorcha war von einer großen Zelle, die sie sich mit Diakon Petav geteilt hatte, in eine kleinere neben der von Merrick umgezogen. Es war ein bedeutsames Zeichen, das viele Gerüchte in die Welt gesetzt hatte.
Obwohl Diakone ernsthafte Leute waren, die sich dem Schutz der Welt verschrieben hatten, waren sie so anfällig für Schwächen wie der Rest der Menschheit, und Klatsch konnte sich im Dormitorium ebenso verbreiten wie in jedem Internat. Obwohl Merrick die Furcht vor seiner Partnerin überwunden hatte, hatte er nicht die Absicht, sich ihr auf intime Weise zu nähern. Ihr Leben war bereits kompliziert genug.
Seine Zelle glich jeder anderen im Dormitorium: weiß getüncht, schmal, mit einem Bett
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