Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
und einer Kommode aus Kampferholz. Ein Diakon sollte nur so viel besitzen, wie er in Satteltaschen tragen konnte – ein Relikt der Zeit, als sie im Dienste der Menschen das Land durchstreift hatten. Es war völlig anders als seine Kindheit als junger Aristokrat.
Merrick rollte den Meditationsteppich auf dem Boden aus. Es war ein schönes Stück mit einer Darstellung der Zehn Runen der Herrschaft und der Sieben Runen der Sicht. Die Laienbrüder hatten es aus feiner, frigyianischer Wolle gewoben, und es war der einzige Farbklecks in der Zelle. Die Runen selbst besaßen, anders als Zauber, keine spezielle Macht – erst wenn sie in die Handschuhe oder die Riemen eines Diakons geschnitten waren, erhielten sie Wirkungskraft –, aber sie dienten dem Zweck, die Konzentration eines Diakons zu stärken. In den Tagen vor dem Bruch der Anderwelt, in den alten Tagen, als es noch ein religiöser Orden gewesen war, hätte man es einen Gebetsteppich genannt.
Sorcha kniete darauf nieder und strich mit den Fingerspitzen über die Runen der Herrschaft, während Merrick die gleiche Haltung neben den Runen der Sicht einnahm. Er brauchte nicht lange, um die Rune Sielu zu finden, die Erste. Um diesen alten Freund zu aktivieren, war es nicht nötig, sich den Riemen über die Augen zu legen.
»Denkt an das Gespenst«, sagte er leise. »Denkt an das, was es Euch gezeigt hat.«
Sorcha seufzte und klang verärgert, als würde sie lieber zu den Ställen und zu ihren Pferden laufen. Die Verbindung deutete an, dass genau das ihr spontaner Wunsch war.
»Sorcha«, fuhr Merrick sie an und schloss die Augen, »konzentriert Euch!«
Sie ließ sich auf die Fersen zurücksinken, und er war überrascht, als sie nicht antwortete. Vor seinen Augen tanzten die Bilder, mit denen das Gespenst sie versorgt hatte. Sie flimmerten so schnell vorbei wie Karten, die ein Meisterspieler mischte.
Merrick beschwor die Rune: Er fing die Bilder ein, hielt sie fest und spielte sie nacheinander durch die Verbindung wieder ab. Sorcha zischte durch die Zähne, und das war das einzige Eingeständnis von Bewunderung, das er von seiner Partnerin erhalten würde.
Die Bilder zeigten wirklich eine Menge Blut – und ein großer Teil davon floss aus Raeds Körper. Der Rossin war ebenfalls dort – sterbend. Es war ein großer, roter Raum, aber die Einzelheiten waren verschwommen. Auf den nächsten Bildern sah Merrick etwas, das er sofort erkannte. Er war zwar noch nie dort gewesen, aber als eifriger Schüler hatte Merrick keine Mühe, die Bienenkorbstadt zu identifizieren.
»Orinthal.« Der Name lag ihm auf der Zunge wie eine fremdartige Frucht, voller Rätsel und Verheißung. Seine Urgroßmutter stammte von dort und hatte dem dürftigen Besitz seines Urgroßvaters Reichtum gebracht – und ihrer Hautfarbe ein wenig dunklen Kaffee hinzugefügt. Er erinnerte sich an die schwere Goldkette, die auf dem Schlüsselbein seiner Mutter geruht hatte, während sie ihm Gutenachtgeschichten erzählt hatte, und die in seiner kindlichen Fantasie nach Gewürzen gerochen hatte.
»Nie gehört.« Sorcha erhob sich vom Teppich. »Verdammt, ich glaube, meine Knochen werden älter.«
Merrick verkniff sich jeden Scherz über das gar nicht so fortgeschrittene Alter seiner Partnerin. Sie hatte ihm gute zehn Jahre voraus, aber sie war immer noch eine schöne Frau.
»Die Hauptstadt von Chioma. Ich werde einige Nachforschungen anstellen müssen, aber ich bin mir sicher, das ist die Stadt, die Ihr gesehen habt.«
Sorcha beugte sich vor, um Merrick an der Schulter zu berühren. »Ich weiß, es klingt lächerlich … ich gebe zu, dass wir Raed noch nicht lange kennen, aber …«
»Ich teile die Verbindung mit euch beiden«, rief er ihr etwas verlegen ins Gedächtnis. »Ich möchte auch nicht, dass er stirbt.«
»Das werden wir zu verhindern wissen.« Sorcha streckte den Rücken.
»Also dann, auf nach Orinthal«, erwiderte er, und trotz allem spürte er, wie er aufgeregt wurde.
Von oben auf dem Podest sah alles wahrscheinlich ganz einfach aus. Sorcha, die unten auf dem Mosaikboden des Kapitelsaals stand, hob den Kopf himmelwärts und versuchte, sich nicht eingeschüchtert zu fühlen. Sie versuchte auch, nicht nach rechts zu schauen und Kolya zu sehen. So sehr sie gehofft hatte, dass ihr zukünftiger Exmann bei dieser Anhörung nicht zugegen sein würde, hatte er davon erfahren. Es war leicht zu vermuten, wer geplaudert hatte.
Erzabt Rictun, in seinen Umhang gehüllt, der blau und smaragdgrün
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