Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
ob ihre Reise hier zu Ende war. Hatte man Fraine getötet und in den Fluss geworfen? Eine ganze Reihe schrecklicher Möglichkeiten raste ihm durch den Kopf.
»Man hat sie in die Bienenkorbstadt gebracht.«
Die Erleichterung, die ihn durchflutete, ließ Raed einen Schritt zurücktreten. Obwohl es schlimm war, das zu hören, war es wunderbar zu wissen, dass sie noch am Leben war. »Erzählt mir mehr.«
»Viele Sklavenhändler reisen ohne Halt durch Orinthal, weil sie hier nicht verkaufen dürfen.« Isseriah konnte nicht weitersprechen.
»Und?«, drängte Raed, obwohl sein Magen sich zusammenzog.
»Es ist jedoch vorgekommen, dass die Gunstjäger bei Hofe die hübschesten Sklavinnen gekauft und als ihre Verwandten ausgegeben haben.«
»Für seinen Harem, meint Ihr?« Raeds Hand fuhr zu seinem Schwertgriff. Er war so daran gewöhnt, Fraine als kleines Mädchen zu sehen – doch als er nachrechnete, wurde ihm klar, dass sie zwanzig Jahre alt sein musste. Dann dachte er an ihre Mutter: Sie war die Schönheit des Reichs gewesen. Das hatte er fast vergessen, denn sein letztes Bild von ihr war alles andere als bezaubernd. Doch wenn er es verdrängte, konnte er sich an ihr wogendes Goldhaar und ihre strahlend blauen Augen erinnern. Falls Fraine zu einer ebensolchen Schönheit herangewachsen war wie ihre Mutter, würde sie eine atemberaubende Frau sein.
»Also müssen wir in den Palast«, erwiderte Raed entschieden. Als ihr Informant einen Blick mit Tangyre tauschte, fragte er: »Gibt es da ein Problem?«
»Wie Ihr wisst, wird der Palast schwer bewacht.« Der junge Graf sah sich um, als erwartete er, belauscht zu werden. »Jede Karawane braucht eine Genehmigung, um ihn zu betreten – aber da ich hineingehen werde, können Eure Leute sich leicht für meine Arbeiter ausgeben – das ist es nicht …« Er verstummte erneut.
»Es ist nicht nötig, um den heißen Brei herumzureden, Graf.« Tangyre stieß ein kurzes Lachen aus. »Der Neuling auf dem Thron hat das Kopfgeld auf den Prinzen erneuert.«
»Ihr könnt keinem Eurer üblichen Kontaktleute trauen«, flüsterte Isseriah. »Wir müssen dafür sorgen, dass niemand von Eurer Ankunft in Orinthal erfährt.«
Er sah Raed durchdringend an, und in seinen Augen lag eine unausgesprochene Anklage. »Meine Mannschaft ist verlässlich – bis auf den letzten Mann«, erwiderte Raed.
»Woher wusste der Kaiser dann, dass Ihr nach Chioma kommen würdet?«, fragte der rechtmäßige Graf mit leiser Stimme. »Verzeiht meine Kühnheit, Herr – aber Kapitänin Greene sagte, Ihr hättet erst vor einer Woche die Nachricht von der Entführung Eurer Schwester erhalten …«
Raed strich sich den Bart, erwähnte die Möglichkeitsmatrix aber nicht, die er, Sorcha und Merrick unter der Mutterabtei gefunden hatten. Der Abt war tot, der Verschwörungssumpf trockengelegt. Oder etwa nicht? Sorcha hatte ihm erzählt, wie weit der Orden gegangen war, aber er konnte sich nicht daran erinnern, ob sie das Schicksal der unheiligen Schöpfung erwähnt hatte. Die Vorstellung, dass wieder jemand seine Schritte verfolgte, noch bevor er sie tat, war unerträglich.
Er konnte ihnen solche Schrecken, solche Unmöglichkeiten nicht erklären. »Es gibt grausame Dinge auf der Welt, Dinge, die unseren Weg offenbaren, bevor wir ihn beschreiten – doch beschreiten müssen wir ihn. Ich kann nicht zulassen, dass meine Schwester im Harem des Prinzen verschwindet – oder dass ihr Schlimmeres geschieht.«
»Ganz Eurer Meinung«, murmelte Tangyre. »Die Kronprinzessin muss gerettet werden.«
Raed wurde noch mutloser, weil Isseriah immer noch besorgt wirkte. »Da ist noch mehr, nicht wahr?«
»Nur …« Der junge Mann brach ab und räusperte sich. »Nur Gerüchte, Euer Gnaden – aber ich bin mir sicher, dass Ihr sie auch von anderen gehört hättet. Angeblich treibt ein Mörder sein Unwesen in der Bienenkorbstadt. Die Wachen von Orinthal versuchen, alles ruhig zu halten, aber es hat Todesfälle unter den Adligen gegeben, was schwerer zu vertuschen ist, als hätte es einige Unglückliche auf der Straße getroffen.«
Sie fängt also an.
Raed brachte es fertig, nicht zusammenzufahren. Es war der Rossin, der sich gerade gemeldet hatte. Der Prätendent stand für einen Moment reglos da, spürte jedes Zucken seiner Muskeln, jeden leicht beschleunigten Atemzug – und versuchte festzustellen, ob eines dieser Zeichen bedeutete, dass der Fluch kurz davorstand, sich Bahn zu brechen. Schließlich begriff er nach einigen
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