Die Runenmeisterin
lernte er zu lesen und die Zukunft zu sehen. Das zumindest sagten die alten Geschichten der Sachsen hier, und das sagten auch die Augen dieser Frau.
Anna hielt die Lider wieder geschlossen. Der Ire stand auf und rief nach dem Soldaten vor der Tür, der ihm öffnete. Irgendwann würde der Junge zurückkommen. Man würde ihm sagen, daß Custodis seine Mutter mitgenommen hatte. Und dann würde er hierherkommen. Custodis hatte Zeit. Er konnte warten.
Custodis, diese Ausgeburt der Hölle, schlich weiterhin durch die Burg. Er warf jeden Tag einen Blick auf die Frau im Kerker. »Die Zeiten sind schlecht«, brummte er, »zuviel Rücksicht auf das Gesindel.«
Raupach hatte einen Boten nach Braunschweig geschickt, der sich umhören sollte, ob Custodis nicht gegen einen anderen Vollstrecker ausgetauscht werden könne.
»Das kann uns den Kopf kosten«, murmelte Berthold, »Custodis hat mächtige Freunde, nicht zuletzt den Herzog selbst.«
Aber Raupach hatte nur mit den Achseln gezuckt. »Wenn ich den Teufel loswerden kann, ist mir alles recht.«
Eines Abends ließ Raupach den Iren rufen und bestellte ihn in seine Schreibstube. »Ich habe eine Aufgabe für Euch«, sagte er. »Eine junge Frau möchte in den Orden Unserer Lieben Frau eintreten. Sie bat mich um Begleitschutz zum Kloster. Wollt Ihr diese Aufgabe übernehmen?«
Der Ire nickte. »Warum nicht? Wo soll ich sie abholen?«
Raupachs Gesicht war ernst. »Sie wird heute noch hier eintreffen. Ihre Mutter ist vor einer Woche gestorben, und sie hat keine Verwandten. Bringt sie morgen bei Tagesanbruch zum Kloster.«
Die junge Frau wartete am nächsten Morgen schon auf ihrem Pferd im Innenhof, als Raupach und Cai Tuam aus der Halle traten. Ein dünner Schleier verbarg ihr Gesicht. Sie nickte dem Iren zu und reichte Raupach die Hand zum Abschied.
»Geht mit Gott«, sagte Raupach, »der Soldat wird Euch sicher zum Kloster bringen. Und grüßt die Ehrwürdige Mutter von mir.«
»Ja, Herr«, erwiderte die Frau mit leiser Stimme.
Der Ire stieg auf und lenkte sein Pferd aus dem Hof. Dunst lag über der Heide unter ödem grauem Himmel – das richtige Wetter, um von der Welt Abschied zu nehmen, dachte er. Die Frau ritt schweigsam neben ihm. Ihr brauner Mantel wirkte schon jetzt wie eine Kutte, und ihre Haltung war bereits die einer Nonne. Sie wollte nicht reden, und der Ire spürte das. Sie bewegten sich in gemächlichem Tempo auf dem Pfad in Richtung Norden, wo es weder Wald noch menschliche Behausungen gab. Nur weites, flaches Land, vom Nebel zugedeckt.
Plötzlich kam der Garten in Sicht, den Cai damals gefunden hatte. Das magische, eingezäunte Viereck, vor dem er stundenlang im warmen Sand gehockt hatte. Die Frau zügelte ihr Pferd und sah hinüber.
»Wißt Ihr, wem der Garten gehört?« fragte er.
Sie zögerte.
»Ihr könnt es mir ruhig sagen, ich verrate nichts.« Er sah ihr an, daß sie sich fragte, woher er wissen könne, daß es dort etwas zu verraten gäbe. War ein Garten nicht einfach nur ein Garten? Sie wandte ihm den Kopf zu. Selbst hinter dem Schleier erkannte er das Erstaunen in ihren Augen.
»Verraten?« fragte sie verblüfft. »Was wißt Ihr davon?«
»Dies ist der Garten einer Zauberin«, sagte er ruhig.
Sie hob den Schleier. Ein sonnengebräuntes Gesicht kam zum Vorschein mit haselnußbraunen Augen. Sie lächelte. »Dies ist der Garten einer Runenmeisterin. Der letzten Runenmeisterin Sachsens. Ihr seid kein Sachse.«
»Nein, ich bin Ire.«
Sie musterte ihn prüfend.
»Wo lebt diese Runenmeisterin?« wollte er wissen.
»Niemand weiß, wo sie lebt«, sagte sie ausweichend, aber ihr Blick wanderte zu dem Wald hinüber, der sich hinter dem Garten erstreckte.
Sie ritten weiter. Sprachen nicht mehr, sondern ließen sich vom Nebel einhüllen. Nach einer Stunde tauchten die hölzernen Palisaden des Klosters auf. Eine Schwester kam ihnen entgegen. Sie half der jungen Frau vom Pferd und reichte dem Iren die Hand. »Wollt Ihr essen und trinken, bevor Ihr Euch auf den Heimweg macht, Soldat?«
Er schüttelte den Kopf. Er wollte so schnell wie möglich zurück und wendete sein Pferd. Der Nebel lichtete sich und ließ eine fahle Sonne hindurchscheinen. Cai Tuam ritt schnell und erreichte gegen Mittag den Garten, der jetzt im Licht der vollen Sonne lag. Der Wald hinter dem Garten bestand aus schlanken hochgewachsenen Kiefern, ein dämmriges Reich, in das nur wenig Licht fiel. Es roch herb und würzig, nach dem Harz der Bäume – abgesehen vom Gesang der
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