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Die Runenmeisterin

Die Runenmeisterin

Titel: Die Runenmeisterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Groß
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wie dieser hier. Wenn man sich verliert, mein Kind, dann sieht man mehr als andere. Manchmal, wenn ich eine wichtige Frage zu beantworten habe, sage ich mir: Kommt ein Vogel ans Ufer, um zu trinken, dann werde ich die Frage bejahen, kommt er nicht, so verneine ich sie. Das ist schwer zu verstehen, aber es ist vor allem eine andere Art, die Dinge zu sehen. Du wirst denken, was hat der Vogel mit meiner Frage zu tun? Nichts, er hat nichts damit zu tun. Und doch beeinflußt er das Geschehen der Welt, wenn er ans Ufer zum Trinken kommt.
    Ich sah den Iren im Wasser, und ich sah Euch. Er kam hierher, und wir sprachen miteinander über die Vergangenheit und die Kräuter. Er geht in die Kirchen und betet zu dem Christengott, denn sein Großvater lehrte ihn, alle Götter zu ehren. Seine Lehrer waren die Nachfahren der Druiden, meine die der Skalden, aber beide gibt es nicht mehr. Unsere Zeit ist vorüber. Dennoch habe ich mich gefreut, wenn er kam – und wäre ich jünger, ich hätte mehr mit ihm getan, als nur mit ihm zu reden.«
    Sie lachte.
    »Warum erzählt Ihr mir das alles?« fragte Maria unbehaglich und hielt ihre Hand in das kalte, klare Wasser.
    »Ich sah deinen Haß«, murmelte die alte Frau, »ich sah und ich spürte ihn. Wasser ist zu kalt für solch hitzige Gefühle, und ich werde alt. Ich kenne die Stelle, an der der Turm der Veleda stand. Weißt du, wer sie war? Sie war unsere größte Seherin, das Orakel sprach aus ihr wie aus einem heiligen Gefäß.«
    Sie hob die Hand und strich Maria übers Haar. »Cai Tuam findet sich nicht zurecht in dieser Welt, mein Kind. Er glaubt an die Wiederkehr der Seele, wie seine Vorfahren, und doch habe ich niemanden gesehen, der sterblicher wäre als er, denn er verachtet den Tod nicht.«
    »Er tötet, ohne mit der Wimper zu zucken«, sagte Maria bitter.
    Sigrun nickte. »Ich weiß. Als er jung war, sollte er Priester werden, kein christlicher, du verstehst? Aber er wollte nicht, er verriet statt dessen seinen Lehrer und wurde Soldat. Und nun muß er sein Leben lang davonlaufen, weil er sein Gesicht verloren hat, und weil er in seinem Innersten gerne ein Priester geworden wäre. Es war nur der falsche Glaube, der ihn davon abgehalten hat. Wißt Ihr, Namen ändern sich, auch die Namen von Göttern, aber dahinter bleibt immer die gleiche Idee. Jeder Glaube verschwindet eines Tages und macht einem neuen Platz. Nichts ist ewig, das ist die einzige Wahrheit, die am Ende bleibt. Deshalb betet er auch in Euren Kirchen.«
    »Und zu wem betet er da?« fragte Maria düster.
    »Fragt ihn selbst«, sagte Sigrun.
    Maria stand auf. »Wenn sie Euch finden, werden sie Euch aus Eurem Haus vertreiben.«
    Die Alte lachte vergnügt. »Ich weiß. Aber jetzt habe ich Euch mit in mein Geheimnis gezogen, und das tut mir leid. Nicht für mich, für Euch. Ich weiß, Ihr werdet mich nicht verraten, sonst wäre ich gar nicht erst gekommen, aber für ihn bitte ich Euch. Verfolgt ihn nicht mit Eurem Haß. Versucht, ihn zu verstehen. Und jetzt geht nach Hause, und denkt über meine Worte nach.«
    Sie beschattete ihre Augen mit der Hand und starrte zum Himmel. »Geht nur«, sagte sie lächelnd.
    Am Abend kamen die Männer zurück. Custodis betrat fluchend die Halle und brüllte nach Essen und Wein. Die Diener sahen einander besorgt an. Aber sie merkten bald, daß man den Jungen nicht gefunden hatte. Custodis räkelte sich auf seinem Stuhl und wühlte mit den Fingern in einer vollgestopften Schüssel.
    Draußen ballten sich gigantische Wolkentürme zusammen. Wind kam auf, Blitze zuckten durch die Dämmerung. Die Schwüle war unerträglich geworden. Berthold und Raupach hatten sich an einen anderen Tisch gesetzt und starrten schweigend vor sich hin. Sie wußten nichts von dem, was Maria wußte, aber auch sie konnten sich dem Offensichtlichen nicht verschließen. Konnte der Ire ein Interesse daran gehabt haben, den Jungen laufenzulassen? Es wäre nicht weiter schwer gewesen. Die Wache mit einem Schlag bewußtlos zu machen, die Tür zu entriegeln …
    »Wir hatten alle Zweifel an der Schuld dieses Jungen«, murmelte Berthold in das bedrückte Schweigen hinein.
    Raupach zuckte mit den Schultern. »Sicher. Aber Custodis wird keine Ruhe geben. Und dann? Hängen wir dann Euren Arzt?«
    Der Ire betrat die Halle. Custodis entdeckte ihn und winkte ihn zu sich. Er ahnt nichts, dachte Berthold erleichtert. Er kommt gar nicht auf die Idee, daß sein Folterknecht so etwas tun könnte. Für ihn ist Cai Tuam der letzte, den

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