Die russische Gräfin
»Mr. Harvester, möchten Sie noch mehr von Baron von Emden wissen?«
Harvester stand da wie ein begossener Pudel. Offenbar hatte er sich nicht vorstellen können, was für einen Sturm der Begeisterung Stephans Aussage auslösen würde. Plötzlich drehte sich der Prozeß nicht mehr um trockene Politik, sondern um ein brisantes Thema, das jeden berührte. Die Stimmung hatte umgeschlagen, und er wußte nicht, wohin das führen würde.
»Nein, danke, Euer Ehren«, antwortete er. »Ich denke, der Baron hat auf bewundernswerte Weise dargestellt, daß die Emotionen bei diesem Treffen in Wellborough Hall sehr hoch schlugen und viele Felzburger tatsächlich das Schicksal ihrer Nation mit Prinz Friedrichs Entscheidung für oder gegen eine Rückkehr verbanden.« Er schüttelte den Kopf. »Nichts davon hat allerdings auch nur den geringsten Bezug zu Gräfin Rostovas Vorwürfen an Prinzessin Gisela und deren nachweisbare Unwahrheit.« Er sah Rathbone kurz an und kehrte an sein Pult zurück.
Den Zeitpunkt für seinen Seitenhieb hätte Harvester nicht geschickter wählen können, und das war auch Rathbone klar. Er hatte nichts zu Zorahs Verteidigung vorbringen können, ja, nicht einmal den unausgesprochenen Mordverdacht hatte er ausgeräumt. Wenn überhaupt, dann hatte Stephan unwissentlich alles nur noch schlimmer gemacht. Er hatte gezeigt, wieviel auf dem Spiel stand, und geschworen, daß Zorah an die Unabhängigkeit glaubte. Sie hatte sich nie Friedrichs Tod gewünscht, aber sie hätte durchaus versuchen können, Gisela zu töten, und dies als patriotische Heldentat gewertet. Jeder im Gerichtssaal konnte sich das jetzt vorstellen.
»Was, zum Teufel, machen Sie da nur, Rathbone?« wollte Harvester wissen, als sie sich auf dem Weg zum Mittagessen begegneten. »Das sieht doch jeder, daß Ihre Mandantin sich gründlich getäuscht hat!« Er senkte die Stimme und ließ zum erstenmal aufrichtige Sorge erkennen. »Sind Sie sicher, daß sie noch bei Trost ist? Können Sie sie denn nicht in ihrem eigenem Interesse dazu bewegen, alles zurückzunehmen? Nun gut, egal was sie sagt oder tut, das Gericht wird jetzt der Wahrheit auf den Grund gehen. Aber schützen Sie sie doch wenigstens, und raten Sie ihr, nichts mehr zu sagen, bevor sie sich selbst belastet… und Sie mit in den Abgrund zieht. Der Hinweis auf den Prince of Wales war übrigens unglücklich. Sie haben zu viele verrückte Zeugen, Rathbone.«
»Ich habe einen verrücken Fall«, stimmte Rathbone betrübt zu und setzte sich gemeinsam mit Harvester in Bewegung. »Aber wenn ich von Emden nicht nach der Gästeliste befragt hätte, dann hätten Sie sie sich von ihm besorgt.«
Harvester schnitt eine Grimasse. »Ich sehe schon das Gesicht des Lord Chancellors!«
»Ich auch«, brummte Rathbone. »Aber ich habe keine Alternative. Meine Mandantin läßt sich nicht davon abbringen , daß Gisela Friedrich getötet hat, und da ich keinen Grund habe, den Fall abzugeben, muß ich ihre Anweisungen ausführen.«
Harvester schüttelte den Kopf. »Das tut mir leid.« Er sprach mit echtem Mitgefühl. Schonen würde er ihn freilich nicht. Nun, an Harvesters Stelle, an der er jetzt für sein Leben gerne wäre, würde Rathbone nicht anders handeln.
Sie umkurvten eine Gruppe aufgeregt miteinander diskutierender Schreiber und traten gemeinsam in den kalten Oktoberwind.
Als die Verhandlung am Nachmittag wiederaufgenommen wurde, rief Rathbone Klaus von Seidlitz auf, dem nichts anders übrigblieb, als Stephans Aussagen zu bestätigen. Zuerst wollte er es nicht zugeben, doch er konnte nicht leugnen, daß er für die Vereinigung mit Deutschland war. Auf Rathbones eindringliche Fragen hin hielt er prompt ein flammendes Plädoyer gegen Krieg und Zerstörung und beschrieb drastisch die Verheerung, die die durch die Länder ziehenden Armeen anrichten würden, die Verschwendung von Acker und Weideland, die Verluste für die Grenzgebiete, die vielfachen Verstümmelungen und die Trauer der Hinterbliebenen. Seine unförmige Gestalt strahlte auf einmal Würde aus, als er von seinen Ländereien und seiner Liebe zu den kleinen Dörfern und den Feldern sprach.
Rathbone unterbrach ihn kein einziges Mal und deutete danach mit keinem Wort an, Klaus könnte derjenige sein, der Friedrich ermordet hatte, um seinem Land einen solchen Krieg zu ersparen.
Nun, wenn diese Aussage etwas bewirkt hatte, dann die Gewißheit, daß es genügend Gründe für Friedrichs Ermordung gegeben haben könnte und sogar ein – wenn auch
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