Die russische Herzogin
Regentschaft prosperierte Württemberg Jahr für Jahr. Das bis vor wenigen Jahren klägliche Eisenbahnnetz wurde immer mehr ausgebaut. Statt sich mit Pferdefuhrwerken mühevoll über schwer geläufige Wege zu quälen, konnten die Württemberger inzwischen schnell, günstig und bequem mit dem Zug von einem Ort zum anderen gelangen. Die Versorgung der Bevölkerung mit frischem, sauberem Trinkwasser hatte durch ein Großprojekt auf der Schwäbischen Alb, welches kilometerlange Wasserleitungen und starke Pumpwerke beinhaltete, einen Riesenfortschritt gemacht. Überall im Land schossen kleine Fabriken aus dem Boden und stellten die Waren her, die in den vielen kleinen Geschäften und Kaufhäusern der Städte verkauft wurden. Es gab Arbeit für Hunderttausende!
Und nicht nur die Stadtbevölkerung, sondern auch die auf dem Land profitierte vom allgemeinen Vorwärtsdrang: In von der Regierung eingerichteten sogenannten »Winterschulen« lernten die Jungbauern den richtigen Einsatz von Kunstdüngern, auch erhielten sie Unterricht in Pflanzen- und Tierkunde. Ihre Betriebe konnten sie gegen Hagelschäden versichern lassen, ein dringend benötigtesFlurbereinigungsgesetz war in Vorbereitung. Die Kühe lieferten mehr Milch, die Felder mehr Getreide, die Reben in den Weinbergen eine bessere Qualität. Stolz präsentierten die Bauern auf dem jährlich im September stattfindenden Landwirtschaftlichen Hauptfest auf dem Cannstatter Wasen ihre Produkte.
Kurz gesagt, dem kleinen Land Württemberg ging es ausgesprochen gut, und das, obwohl es außer ein paar Steinsalzbergwerken keine anderen Bodenschätze oder sonstige Reichtümer besaß. Vom Börsenkrach, der im Kaiserreich ganze Finanzmärkte zum Einstürzen gebracht hatte, war in Württemberg fast nichts zu spüren, und Gerede von einer Depression, wie man es anderswo hören konnte, gab es auch nicht.
Wie schade, dass Olly ausgerechnet jetzt hatte verreisen müssen, dachte Wera. Zu gern hätte sie mit ihr und Klein-Egi das Volksfest auf dem Wasen besucht. Die hübschen Verkaufsbuden, das laute Treiben rund um den »Hau den Lukas!«, die prächtig geschmückten Pferde der Stuttgarter Brauereien – das Volksfest der Bauern strahlte jedes Mal eine ganz besondere Mischung aus Lebensfreude, Bodenständigkeit und Wohlstand aus.
Nachdem sie den Schlossgarten einmal ganz durchschritten hatte, setzte sich Wera schließlich auf eine Bank und genoss mit geschlossenen Augen die letzten Sonnenstrahlen. Ihr Gespräch mit Margitta, Eugens Brief, die Frage, ob sie mit ihm nach Bad Carlsruhe reisen sollte – kaum dass sie saß, herrschte wieder ein wildes Durcheinander in ihrem Kopf. So viele Entscheidungen gab es zu treffen. So vieles abzuwägen. Was war falsch? Was richtig? Unwirsch öffnete sie die Augen wieder und versuchte, sich zu konzentrieren.
Hatte Eugen das Fest mit den Tänzerinnen organisiert, hinter ihrem Rücken? Oder ging das Gelage auf das Konto der anderen Offiziere? In diesem Fall war Eugen nichts anderes übriggeblieben, als mitzufeiern, sonst hätte man ihn einen Spielverderber genannt. Dass ausgerechnet Etty mit von der Partie gewesen war – nun ja, solche Zufälle gab es. Dass sie ein Luder war, das für Geld alles machte, hatte Wera schließlich schon vor Jahren erfahren müssen. Somuss es gewesen sein, beschloss Wera. Eugen war überaus beliebt bei seinem Regiment, da war es doch nur natürlich, dass die Männer ihm eine Freude hatten bereiten wollen. Außerdem war die Vorstellung, dass er sie belogen hatte, einfach zu abstrus.
Wenn sie heimkam, würde sie ihm schreiben, dass sie ihm glaubte und verzieh. Aber welche Antwort sollte sie ihm wegen der Reise geben?
Eugen und sie unterwegs – Wera fand die Vorstellung überaus verlockend. Lange Stunden in der Kutsche, in denen sie sich endlich einmal in Ruhe unterhalten konnten. Abende in schönen Herbergen oder auf Landsitzen von befreundeten Adelsfamilien. Tagsüber zünftige Brotzeiten an den Poststationen, abends feine Diners am Kaminfeuer. Sie hätte ihren Mann ständig bei sich. Nachts würde er neben ihr schlafen und sie würde sich nicht fragen müssen, was er gerade tat, wie es ihm ging und ob all das in Ordnung war, was in Ordnung sein sollte.
»Ein kleinbürgerliches Idyll«, so hatte Eugen ihre Vorstellung vom Eheleben vor Wochen einmal genannt. Nun schlug er selbst etwas Ähnliches vor. Weil er ihr einen Gefallen tun wollte? Weil er sie eben doch liebte?
Eugen wedelte so heftig mit seiner silbernen
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