Die russische Herzogin
zugetraut«, sagte sie und klopfte Wera lobend auf die Schulter.
Wera grinste nur. Es tat gut, sich für andere starkzumachen. Und es war ein geradezu erhebendes Gefühl, zu erleben, was daraus erwachsen konnte. Noch im Sommer sammelten Olly und sie Gelder für eine kleine Musikschule, um mittelosen, aber begabten Kindern Musikunterricht zu ermöglichen. Unter den ersten Schülern befand sich ein dreizehnjähriger Junge, der Geige spielte. Im Herbst wandte sich der Leiter der Musikschule in einem persönlichen Schreiben an Wera und bat sie erneut um Hilfe: Der Junge habe sich als Ausnahmetalent herausgestellt, man würde ihn gern einem berühmten Maestro in Berlin vorstellen. Ob die gnädige Herzogin eventuell die Fahrtkosten mit der Eisenbahn übernehmen könnte? Wera tat dies mit dem größten Vergnügen.
Der Sommer ging ins Land, dann der Herbst. Wera und die Kinder zogen zurück in ihre Stadtwohnung, doch wann immer es ihr möglich war, ging sie mit den Kleinen im Schlossgarten oder im Rosensteinpark spazieren. Der Winter kam und mit ihm heftige Schneefälleschon Anfang Dezember. Wera und die Zwillinge bauten einen großen Schneemann. Wenn Elsa und Olga erst einmal größer waren, würde sie mit ihnen Schlittschuh fahren, so wie in ihrer Jugend. Eugen, dem sie davon bei einem Besuch in der Gruft erzählte, hielt dies für eine gute Sache, das spürte Wera tief in ihrem Innern.
Am 24 . Dezember 1878 begleitete Wera Olly zum ersten Mal auf ihrer Fahrt durch die Stadt. Ollys legendäre »Armenweihnacht« stand bevor und damit der Besuch vieler Kinderheime und Armenhäuser sowie der Olgaheilanstalt. Wera verteilte kleine Geschenke, sang und tanzte fröhlich mit den Kindern um den Tannenbaum und fragte sich danach, warum sie Olly nicht schon viel früher bei diesen Fahrten begleitet hatte.
»Du warst immer zu sehr mit dir selbst beschäftigt«, antwortete Olly lächelnd und mit einem Schulterzucken, woraufhin Wera beschämt schwieg.
Noch waren es hauptsächlich Ollys karitative Einrichtungen, für die sich Wera einsetzte. Doch ihren Traum von einem Mutter-Kind-Heim verlor sie nicht aus den Augen. Wann immer sie eine besonders große Sensibilität bei ihrem Gegenüber spürte, brachte sie die Rede auf eine Zufluchtsstätte für Mütter und ihre Kinder in Not. Jedes Mal konnte sie zusehen, wie die bis dahin aufgeschlossene Miene ihres Gesprächspartners zuklappte wie eine Auster, die man zu unbedacht angefasst hatte. Vielleicht war die Zeit noch nicht reif für solch neue Gedanken. Wera beschloss, deswegen nicht gleich zu resignieren. Voller Elan widmete sie sich der Organisation eines Konzerts für arme Kinder, welches im kommenden Frühjahr stattfinden sollte.
Der große Lobgesang auf die Liebe und das Leben mochte vielleicht tatsächlich vorbei sein. Aber das Leben selbst war es nicht, erkannte Wera mit frohem Herzen. Fortan würde sie das Beste aus dem machen, was der liebe Gott ihr zur Verfügung stellte. Und das war ziemlich viel. Es war lästerlich von ihr gewesen, ständig nur daszu beweinen, was nicht mehr war. Sie würde vielmehr dankbar sein für das, was war. Das, was war … Ein schöner, tröstlicher Gedanke.
Als der Bote 1879 die Osterpost aus St. Petersburg brachte, öffnete sie die Umschläge mit einem Lächeln auf den Lippen. Beim dritten Brief angekommen, wurde ihre Miene jedoch sehr nachdenklich.
34. KAPITEL
G eh!«, sagte Olly zum wiederholten Male. »St. Petersburg ist deine Heimat, auch wenn du Ewigkeiten nicht dort gewesen bist. Ein solches Familientreffen ist eine gute Gelegenheit, alte Bande neu zu knüpfen. Deine Eltern würden sich bestimmt sehr freuen, dich und die Kinder zu sehen. Und –« Sie brach ab, als ein lautes Kreischen aus dem Villapark zu ihnen in den Wintergarten drang. Als gleich darauf die beruhigende Stimme des Kindermädchens ertönte, entspannte sie sich wieder. Die Zwillinge waren erkältet und seit ein paar Tagen recht unleidig.
Stirnrunzelnd schaute Wera wieder zu Olly.
»Ich soll Elsa und Olga mitnehmen? Auf solch eine lange Reise? Nie und nimmer!«, sagte sie schroff. »Was sollen die beiden dort? Sie sind Württemberger und keine Russen. Und ob ich gehe, steht auch noch nicht fest. Was du gesagt hast, ist nämlich nicht richtig: Stuttgart ist meine Heimat, nicht Russland.« Obwohl sie um eine feste Stimme bemüht war, klang doch eine Spur Unsicherheit, ja Verletzlichkeit in ihren Worten mit. Ihre rechte Hand zitterte leicht, als sie den Brief aufhob.
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