Die russische Herzogin
»Eine Familienzusammenführung – es ist reichlich spät, dass meine leiblichen Eltern auf solch eine Idee kommen, findest du nicht?«
Olly schwieg. Der Brief hatte nicht nur in Wera eine innere Unruhe ausgelöst, sondern auch in ihr. Heimweh gepaart mit anderen, nicht so leicht identifizierbaren Gefühlen. Erinnerungen an ihreJugend in St. Petersburg, süß und bitter zugleich, wallten in ihr auf. War es nicht besser, manches einfach ruhen zu lassen? Heimweh – war das nicht nur ein anderes Wort für Sehnsucht?
»Mir hat es in St. Petersburg immer sehr gut gefallen«, sagte Evelyn plötzlich. »Liebste Olly, was haben wir zusammen für schöne Reisen erlebt: Ihre Mutter, die Zarin Alexandra, war stets eine wundervolle Gastgeberin! Ganz gleich, wo wir auftauchten, ob in den Salons der Stadt oder in den Landgütern von Zarskoje Selo – ich fühlte mich immer in einen Kokon aus Zuneigung und Herzlichkeit eingesponnen. Ja, an St. Petersburg habe ich nur gute Erinnerungen …«
Sowohl Olly als auch Wera drehten sich überrascht zu Evelyn um. In ihrem Streit über das Pro und Kontra einer Reise hatten sie fast vergessen, dass auch ihre Hofdamen mit am Tisch saßen.
»Sie schwärmen ja regelrecht«, sagte Clothilde von Roeder lächelnd. »Ich hingegen war noch nie in St. Petersburg, in der Stadt der goldenen Kuppeln, des Winterpalastes und der vielen Kanäle. Es heißt ja, die Zarenstadt sei eine der schönsten Städte der ganzen Welt …« Sie seufzte sehnsuchtsvoll.
Olly machte ein nachdenkliches Gesicht. Ihr Blick fiel auf die gläserne Vitrine, in der eine Sammlung russischer Kunstgegenstände ausgestellt war: kleine diamantbesetzte Dosen, eine Schale in der aufwendigen Niellotechnik, handbemalte Porzellanfiguren aus der kaiserlichen Manufaktur, eine Schnecke aus purem Gold, die über einen Teppich aus Smaragdsplittern kroch. Oftmals, in unbeobachteten Momenten, nahm Olly eines der Teile in die Hand. Während sie es streichelte, dachte sie daran, wann und wo sie es erstanden oder geschenkt bekommen hatte. Ein solcher Moment der Einkehr reichte meist aus, um ihr Heimweh zu stillen. Doch nun wurde sie von einem unerwartet heftigen Begehren überwältigt, das nicht durch künstliche Pretiosen gestillt werden konnte, sondern mit einem viel urtümlicheren Russland zu tun hatte: ein frisch zubereitetes Gericht mit Pilzen aus russischen Wäldern. Barfuß am Ostseeufer entlangspazieren und Steine sammeln. Mit ihren Brüdern am Kaminfeuer sitzen und schwarzen Tee trinken, der mit Kissel , einer Art dickem süßem Kompott, gesüßt wurde.Das Grab ihrer verehrten Mutter besuchen. Und das von Mary und Adini, ihren geliebten Schwestern …
Olly nahm Weras und Evelyns Hand, Clothilde von Roeder lächelte sie einladend an.
»Was würdet ihr davon halten, wenn wir alle zusammen nach Russland reisen?«
In den nächsten Wochen wurden Reisetermine, die Routen und Transportmittel organisiert, Geschenke gekauft und neue Garderoben geschneidert. Die Kinder ließ man in der Obhut ihrer Kindermädchen, die von Wera und Olly tausendfach instruiert wurden. Karl musste außerdem hoch und heilig versprechen, jeden Tag persönlich nach dem Rechten zu sehen.
Im Spätherbst 1878 trafen Wera, Olly und ihr Gefolge bei herrlichstem Wetter in St. Petersburg ein.
Olly fiel ihrem Bruder Sascha schluchzend in die Arme. Sie hatte ihn so sehr vermisst! Ihn und seine Frau Cerise und all die anderen.
Auch Wera fand sich heulend in den Armen ihrer Mutter wieder, dabei hatte sie eigentlich vorgehabt, sich bei der Begrüßung reserviert zu geben. Ihre Tränen hatten jedoch weniger mit Rührung, sondern mehr mit Erschrecken zu tun: Fast hätte sie ihre Mutter nicht wiedererkannt, so verhärmt und alt sah Alexandra, die von allen nur Sanny genannt wurde, inzwischen aus. Und woher rührte der traurige Ausdruck in ihren Augen?
Evelyn, die solche nicht enden wollenden Begrüßungszeremonien von früheren Besuchen kannte, kümmerte sich währenddessen um das Gepäck, während Clothilde von Roeder ehrfürchtig zuschaute, wie Zar Alexander II. von Russland tränenreich seine Schwester küsste.
Die Stuttgarter Gäste wurden im Winterpalast einquartiert, wo auch schon Weras Schwester Olgata und ihr Ehemann, der griechische König Georg, Zimmer bezogen hatten. Auch Weras Eltern und Brüder wohnten übergangsmäßig im Zarenpalast, so konnten sieso viel Zeit wie möglich mit den Angereisten verbringen, erklärte Weras Vater ihr. Langen gemeinsamen
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