Die russische Herzogin
ging erst gar nicht mehr zu seinem Unterricht.
Mit schlurfenden Schritten folgte sie dem Gang, stieß Tür für Tür auf.
Aus einem der größeren Salons drang Ollys laute Stimme – wahrscheinlich wieder eine ihrer »Besprechungen«. Wera fragte sich, was die Tante die ganze Zeit zu besprechen hatte. Überhaupt hatte Olly ständig irgendetwas zu erledigen, wenn man sie suchte, schaute man am besten im Geschäftszimmer oder dem Kontor nach. Dort schrieb sie ellenlange Briefe an alle möglichen Leute. Und erstellte Listen mit vielen Spalten und Zahlen. Falls sie nicht gerade außer Haus war, was ziemlich oft vorkam. Als Wera sie einmal fragte, wohin sie andauernd mit ihrem Privatkutscher fuhr, hatte Olga nur knapp geantwortet: »Ich gehe arbeiten.«
Arbeiten – was die Tante damit wohl meinte? Wera fand ihr Gebaren sehr seltsam. Der Onkel schien im Übrigen von Arbeit nicht sonderlich viel zu halten. Lieber ging er mit seinem Adjutanten Wilhelm von Spitzemberg spazieren. Die beiden Männer hatten sie schon mehrmals gefragt, ob sie nicht mitkommen wolle zu einem Gangdurch die Stadt. Aber das ging nicht. Ihre Eltern wollten sie doch abholen, da konnte sie nicht durch Stuttgart spazieren, am Ende würde sie deshalb noch ihre Ankunft verpassen! Außerdem – Olly gefiel es sowieso nicht, dass Karl und sein Adjutant so viel Zeit miteinander verbrachten. Die Tante tat zwar immer gleichmütig, wenn die Männer wieder einmal loszogen, aber Wera spürte, dass dies nur gespielt war.
Wera rückte ein Ölgemälde zurecht, das danach noch schräger an der Wand hing als zuvor. Warum bat Olly ihren Karl nicht einfach, mehr Zeit mit ihr zu verbringen?
Vor der letzten Tür machte Wera kehrt. Den kleinen Saal, der sich dahinter verbarg, hatte sie schon bei einer ihrer früheren Erkundungstouren inspiziert. Er wurde von der Tante für kleinere Empfänge und Konzertabende genutzt und war langweilig. Nur ein paar Stühle und Landschaftsbilder an den Wänden. Lustlos stapfte Wera die Treppe ins nächsthöhere Stockwerk hinauf.
Schlafzimmer. Ankleidezimmer. Zwei kleine Salons. Alles schrecklich öde.
Einzig Evelyns Räume waren nicht langweilig. Evelyn besaß nämlich ein Pärchen blaue Wellensittiche. Sie kreischten schrill und laut, was Wera an die Sängerin Pauline Viardot erinnerte. Diese hatte letzte Woche ein Konzert im Kronprinzenpalais gegeben. Sie war extra dafür aus Baden-Baden angereist.
Probeweise versuchte sich Wera an einem ähnlichen Gesang. Ihre Stimme hallte schrill von den engen Wänden des Ganges zurück.
Inzwischen war sie bei Karls Räumen angelangt. Von drinnen hörte man leises Rumoren und Männerstimmen. Es war Wera verboten, diese Räume zu betreten, dabei gab es hier prächtige Landkarten zu bestaunen. Zudem einen ausgestopften Tigerkopf, der riesige Zähne hatte.
Und wenn schon! Wera machte ein abfälliges Geräusch. Zu Hause in Petersburg gab es unzählige Jagdtrophäen. Und riesige Tierfiguren aus Porzellan.
Wera warf einen letzten Blick den langen Gang entlang. Wie trist hier alles wirkte! Kein goldener Schein, nirgendwo.
»ArmeTante Olly, kann sich nicht einmal den Vergolder leisten«, murmelte sie.
Kräftig rüttelte sie an einer Holztür, die sie erst vor kurzem entdeckt hatte, weil sie in einer Nische lag. Sie führte hinauf auf den Dachboden, wo Wera laut Evelyn nichts zu suchen hatte.
»Ich suche ja nichts, ich will nur wieder schauen«, murmelte Wera, während sie die schmale Treppe hinaufstieg, bis sie erneut vor einer Tür stand.
Sie öffnete sich mit einem Knarren, und sogleich schlug Wera der staubige Geruch von Spinnweben, altem Holz und Taubenkot entgegen. Warum rochen Dachböden eigentlich überall gleich? Sie ging auf die enge Fenstergaube zu, von der aus man den Schlossplatz besonders gut im Blick hatte. Doch gleich darauf blieb sie abrupt stehen.
»Wer bist du denn?« Erschrocken schaute sie auf das fremde Mädchen, das in »ihrer« Fenstergaube saß. Weder hier oben noch anderswo im Schloss war sie je einem Kind begegnet, von den »Spielkamerädchen«, die ihre Tante regelmäßig für sie einlud, einmal abgesehen. Aber mit denen wollte sie nichts zu tun haben. Die waren gemein zu ihr und lachten über ihren Akzent. Außerdem – in St. Petersburg hatte sie Spielkameraden genug! Höchstens Wilys Freund, den schönen Herrn Eugen, hätte sie gern wiedergesehen.
Ohne ein Wort zu sagen, huschte das Mädchen, das ein wenig größer als Wera war, an ihr vorbei, ein Buch dabei
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