Die russische Herzogin
eng an die Brust gedrückt.
»Bleib doch!«, sagte Wera und hielt das Mädchen am Arm fest. »Ich tu dir nichts.«
Unruhig schaute es zwischen Wera und der Tür hin und her. »Ich verrate auch nicht, dass ich dich hier oben gesehen habe«, sagte Wera. Stumm zeigte sie dann auf die Fenstergaube.
Halb neugierig, halb misstrauisch hockte sich das Mädchen wieder dort hin. Wera quetschte sich daneben. Die Fenstergaube war so eng, dass sich ihre Schenkel berührten. Wera hielt dem Mädchen die Hand hin.
»Mein Name ist Wera«, sagte sie im besten Deutsch, das sie zustande brachte. »Und wer bist du?«
»Margitta«, sagte das Mädchen mit fester Stimme. »Meine Mutter arbeitet unten in der Waschküche.«
Margittas Hand fühlte sich klebrig, warm und zutraulich an. Wie die Hand von Weras Schwester Olgata, als die noch nicht so dumm gewesen war. Wera hätte sie gern noch für ein Weilchen gehalten, doch dabei wäre sie sich komisch vorgekommen. Also begnügte sie sich damit, die andere mehr oder weniger auffällig zu mustern.
Ihre Haare waren wie Weras blond und lockig. Sie war nicht so schön wie Olgata oder Tante Olly, aber sie hatte ebenmäßige Züge, einen wachen Blick und einen großen, wohlgeformten Mund. Eine Gänsehaut überzog ihre mageren Arme. Wera wunderte dies nicht weiter – sie fröstelte schon beim Anblick des dünnen, formlosen Kittels, den Margitta als einziges Kleidungsstück trug. Ihre Füße steckten in klobigen Schuhen, Strümpfe trug sie nicht.
»Frierst du nicht? Hast du etwas ausgefressen und musst dich hier oben verstecken?«, fragte Wera neugierig.
Margitta grinste. »Etwas ausgefressen? So wie du es ständig tust? Von deinen Schandtaten erzählt man sich im ganzen Schloss.«
Wera war sprachlos. Nie hätte sich ein Bediensteter in St. Petersburg solch eine freche Bemerkung erlaubt! Wusste das Mädchen nicht, dass ein einziges Wort von ihr, Wera, reichen würde, um Margitta und ihre Mutter vom Hof zu jagen? Nicht, dass sie auch nur im Traum daran dachte, so etwas zu tun – dazu war sie viel zu neugierig auf ihre »Entdeckung«. Sie zeigte aus dem Fenster.
»Die Kirche da hinten – ist sie gefährlich?«
»Wieso sollte sie? Du bist vielleicht komisch. Aber du kommst ja auch aus Russland.«
»Von wegen komisch! Anderswo sind Kirchen ziemlich gefährlich, das kann ich dir sagen«, erwiderte Wera, während sie krampfhaft versuchte, das böse Gefühl der Angst, das sich in ihrer Brust breitmachte, niederzukämpfen. Jetzt bloß nicht an so etwas denken.
Margittablätterte indessen intensiv in ihrem Buch.
»Stuttgart ist eine seltsame Stadt, nirgendwo gibt es Kanäle oder goldene Kuppeldächer, und die Häuser wirken klein wie Kinderspielzeug. Und bei euch gibt’s auch keinen richtigen Schnee. Das hier«, sie machte eine weit ausholende Handbewegung in Richtung der Häuserfluchten, »sieht aus wie Staubzucker. Staubzuckerschnee.«
Beide Mädchen kicherten.
»Wie kann man sich nur Schnee herbeiwünschen? Meine Mutter ist froh, dass der Winter so mild ist. Wir haben nämlich kein Geld für Brennholz. Den anderen im Haus geht’s nicht anders.«
Wera runzelte die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, wovon Margitta sprach.
»Hast du etwas zu essen dabei?«
Wera wollte schon verneinen, als ihr die Brezel einfiel, die sie zu Beginn ihres Streifzugs in der Küche hatte mitgehen lassen. Einfach so. Ein paar Salzkrümel rieselten herab, als sie das verformte, weich gewordene Gebäckstück aus ihrer Rocktasche zog. Um etwas zu tun zu haben, während Margitta die Brezel gierig verschlang, feuchtete Wera ihren rechten Zeigefinger an, nahm damit die Salzkörner auf und schob sie sich in den Mund. Salz – in Russland gab es etliche Märchen darüber, aber Wera wollte keines einfallen. War sie etwa schon dabei, ihre Heimat zu vergessen?
Über dem Schloss ging gerade der Mond auf. Ringsherum war ein blasser Ring zu sehen. Ob in dieser Richtung Russland lag? Vor ein paar Tagen hatte sich Wera von Onkel Karl auf der Weltkugel den Weg von Stuttgart nach St. Petersburg zeigen lassen. Aber ob der Weg über jenen Berg dort hinten führte, hatte der Onkel nicht gesagt. Wera seufzte sehnsuchtsvoll.
»In Russland ist der Mond viel strahlender als hier.«
»Und warum bist du dann nicht in deinem wunderbaren Russland?«, sagte Margitta unfreundlich.
»Das wäre ich sehr gern, schließlich ist bei uns morgen Weihnachten! Bestimmt dürfen meine Geschwister heute schon einen Blick auf ihre Geschenke werfen.
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