Die russische Herzogin
So wie ich meinen Bruder Nikolaikenne, stiehlt er wieder die Hälfte der Süßigkeiten vom Weihnachtsbaum, und für die anderen bleibt kaum was übrig.« Wera musste schlucken. Eine große Welle Heimweh überrollte sie. Wo würde ihre Familie überhaupt feiern? Zusammen mit Onkel Sascha und Tante Cerise im Winterpalast? Oder im Palais Anitschkow, das ihr Vater vorzog?
Ein Taubenpaar ließ sich auf dem Sims vor dem Dachfenster nieder. Mit ihm kam ihr ein neuer, aufregender Gedanke: Womöglich waren ihre Eltern schon in der Stadt und wollten mit ihr Weihnachten feiern, bevor sie sie nach Hause holten. Eine Überraschung, nur für sie allein! Wie es sich für Weihnachten gehörte. Wera drückte ihre Stirn an die kalte Glasscheibe und schaute angestrengt auf den Schlossplatz.
Ganze vier Wochen wartete sie nun schon auf ihre Eltern. Außer einem Brief in der vergangenen Woche, in dem ihr Vater sie bat, sie möge lieb zu Tante und Onkel sein, hatte sie nichts von zu Hause gehört. Auch von seinem Kommen »so bald wie möglich« war nicht die Rede gewesen. »Bestimmt holen mich meine Eltern heute noch ab!«, sagte sie trotzig und tippte an die Scheibe. Die Tauben flogen davon. Eine Träne rann über Weras Wange.
»Kannst du lesen?«, sagte Margitta in die Stille hinein. Ihre Hand tastete nach Weras, drückte sie kurz. »Nicht weinen, das hilft eh nichts.«
Nur mit Mühe wandte Wera ihren Blick von den davonfliegenden Tauben ab.
»Ich und weinen? Pah! Außerdem – jedes Kind kann lesen, ich beherrsche außer der französischen Sprache auch noch die deutsche, die polnische und ein wenig Russisch kann ich auch. Warum fragst du?«
Margitta schüttelte den Kopf.
»Was ist das überhaupt für ein Buch? Darf ich es sehen?« Fordernd streckte Wera die Hand aus. »Eine Abhandlung über einheimische Gemüsesorten, Obstbäume und Staudenpflanzen?« Fragend schaute sie auf. »Hast du nicht gesagt, deine Mutter ist Wäscherin? Was interessieren dich da Apfel- und Birnbäume?«
»Ichhabe es zu Weihnachten bekommen. Von deiner Tante, der Kronprinzessin. Sie hatte eine ganze Kiste Bücher dabei und hat alle unter uns Kindern verteilt. Mein Buch hat schöne Bilder«, sagte sie eine Spur herablassend.
Wera stutzte. Tante Olly schenkte fremden Kindern Bücher?
»Hast du sonst noch etwas von meiner Tante bekommen?«, fragte sie neugierig.
Margitta nickte stolz. »Einen runden Keks mit einer Walnuss obendrauf. Und eine Tasse mit heißem Kakao hat es auch gegeben, der war köstlich! Ich freue mich schon auf den nächsten Heiligen Abend, das kannst du mir glauben.«
Wera nickte beklommen. Das verstand man also unter der sogenannten »Armenweihnacht«. Als Evelyn ihr erklärt hatte, dass man in Deutschland am 24 . Dezember Weihnachten feierte, hatte Wera es gar nicht glauben wollen.
»Aber heute ist ein Tag wie jeder andere!«, hatte sie entsetzt gerufen. »Tante Olly geht arbeiten, kommt erst spät wieder, ich muss lernen …«
»So ist das nun einmal. Deine Tante besucht am vierundzwanzigsten Dezember arme Kinder in ganz Stuttgart und bringt ihnen kleine Geschenke und Süßigkeiten. Das eigentliche, große Fest findet bei uns im Schloss erst am sechsten Januar statt«, hatte Evelyn ihr erklärt und dabei seltsam geseufzt.
Armenweihnacht … Dann war Margitta also auch arm. Gedankenverloren blätterte Wera das Buch durch. Viele Seiten waren vergilbt, manche sogar angefressen. Hätte die Tante nicht wenigstens ein hübsches Buch verschenken können?, fragte sie sich. Mit spitzen Fingern gab sie Margitta das Buch zurück.
»Ich finde Bücher langweilig!«
»Aber … interessiert dich denn nicht, was da steht?« Andächtig, als halte sie einen Schatz in den Händen, strich Margitta über den rissigen Einband.
Wera hatte schon eine freche Bemerkung auf der Zunge, doch dann schluckte sie sie hinunter.
»Sag bloß, du kannst nicht lesen.«
Margittaschaute auf, dann nickte sie stumm.
»Ich hab mal angefangen, es zu lernen, aber immer wenn ich in die Schule wollte, musste ich auf die Kleinen aufpassen. Unser Samuel ist erst ein halbes Jahr alt, Klaus ist zwei, Anne ist fünf, Martin sechs, ich bin die Älteste.«
»Habt ihr denn keine Gouvernante? Oder wenigstens ein Kindermädchen?« Verwundert schaute Wera Margitta an. Wie konnte man in die Schule »wollen«? Und wie konnte es einem nicht gefallen, auf kleinere Geschwister aufzupassen? Sie hätte das nur zu gern getan, aber ihre Mutter hatte nicht gewollt, dass Wera auch
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