Die russische Herzogin
nicht, was daran anstandslos sein soll«, sagte sie spitz. Nur mit Mühe unterdrückte sie eine Bemerkung darüber, dass vielmehr des Königs Verhalten anstandslos war – von wegen »anderweitig beschäftigt«!
Warum sagte Karl nichts? Und warum gab Pauline Wera keine Chance? Alles, was das Kind sagte und tat, war von vornherein falsch.Mit ihren Enkelkindern war die Königin viel nachsichtiger. Fahrig griff Olly nach ihrem Weinglas.
»Freuen Sie sich auch schon auf das Lotteriespiel?«, wandte sich Wera unverdrossen an die Königin.
Pauline verzog den Mund. »Lotteriespiel – so ein Teufelszeug hat es hier früher nicht gegeben.«
»Aber warum –«
»Königin Pauline hat andere Präferenzen«, ging Olly dazwischen. »Sie wird stattdessen für unsere ans Glücksspiel verlorenen Seelen beten, nicht wahr?« Lächelnd hob sie ihr Glas, als wollte sie Pauline zuprosten.
»Der König würde bestimmt gern ein Los ziehen, da bin ich mir sicher. Ist er heute bei seiner Geliebten?«, fragte Wera und zerpflückte eine Scheibe Brot.
Olly hustete ihren Schluck Wein zurück ins Glas. Gleich werde ich ohnmächtig!, schoss es ihr durch den Sinn. Sie klammerte sich an der Tischkante fest und wartete sehnsüchtig auf ein Dahingleiten in die Bewusstlosigkeit. Wie durch einen Nebel nahm sie die Totenstille am Tisch wahr: Die Königin öffnete und schloss ihren Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen, Karl saß mit weit aufgerissenen Augen da, und auch Evelyn schien sprachlos.
Mit gerunzelter Stirn schaute Wera in die Runde.
»Was ist? Habe ich etwas Falsches gesagt? Onkel Sascha hat auch eine Geliebte. Mein Vater hat keine. Meine Mutter behauptet, wenn ihm so etwas einfiele, würde sie ihn umbringen. Aber das hat sie sicher nicht so gemeint, denn sie lieben sich sehr, meine Eltern.« Prüfend schaute Wera die Königin an. »Sind Sie krank? Die Frau von Onkel Sascha ist auch schon sehr gebrechlich. Ich habe einmal gehört, wie Onkel Sascha sagte, dass mit seiner Frau nichts mehr anzufangen sei und dass er deshalb eine junge Geliebte habe. Ist das bei Ihnen auch so?«
»Das … Das … muss ich mir nicht bieten lassen.« Pauline faltete ihre Serviette, legte sie neben ihren Teller und stand mit steifen Bewegungen auf. »Karl!«
Der Angesprochene schoss in die Höhe. Sein Gesicht war kreidebleich,und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er zu Olly sagte: »Ich begleite Mutter hinüber ins Schloss. Du brauchst heute Abend nicht mehr mit mir zu rechnen.«
Olly, die noch immer auf die erlösende Ohnmacht wartete, nickte.
»Aber warum geht ihr denn schon? Wollt ihr kein Los ziehen?«, rief Wera den beiden nach.
»Das hast du wieder einmal prima hinbekommen«, sagte Evelyn, kaum dass sie zu dritt waren.
»Meinst du?«, fragte Wera ohne den Hauch von Ironie in der Stimme. »Soll ich jetzt für euch singen? Wenn ich viel übe, werde ich vielleicht auch einmal so berühmt wie Pauline Viardot. Ich finde allerdings, dass sie wie ein angestochener Schwan singt.« Schon hob Wera zu einer »Arie« an.
Olly schloss die Augen. Weras Gesang kratzte wie eine Feile an ihren blankliegenden Nerven.
»Sei auf der Stelle still!«, schrie Evelyn. »Olly, nun sagen Sie doch auch einmal etwas! Es ist doch Ihr Patenkind.«
Olly winkte ab. An ihrem linken Auge spürte sie ein nervöses Zucken. Auf einmal wünschte sie sich nichts sehnlicher, als in ihrem Bett zu liegen, bei geschlossenen Vorhängen und verschlossener Tür. Nur eine kleine Kerze auf ihrem Nachttisch. Sonst nichts und niemand. Stille. Allein sein. Ruhe haben. Nicht sprechen müssen. Hinter ihrer Stirn begann es zu pochen. Nicht auch noch eine Migräne.
»Was soll Tante Olly denn sagen?«, kam es von Wera. »Sie ist bestimmt froh, dass die Königin gegangen ist. Pauline ist langweilig. Immer will sie nur beten. Euch zwei finde ich viel interessanter!«, fügte sie leidenschaftlich hinzu und streckte Olly und Eve je eine Hand entgegen. »Aber dass ich ständig lernen muss, während andere Kinder ihre Geschwister hüten dürfen, finde ich ungerecht. Da fällt mir etwas ein: Wenn ich eine Freundin hätte, dürfte die meinen Unterrichtsstunden beiwohnen? Dann wäre ich nicht immer so allein …«
Ollyschaute Evelyn fragend an. Was quasselte Wera nun schon wieder? Den eisernen Ring um ihre Brust ignorierend, holte sie Luft.
»Du hast aber keine Freundin. Und du wirst auch keine bekommen, wenn du weiterhin so garstig zu allen Kindern bist, die ich einlade.« Olly legte ihre
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