Die russische Herzogin
Serviette auf dem Tisch ab.
»Aber es ist doch ungerecht, dass manche Kinder in die Schule müssen und andere, die in die Schule wollen , nicht dürfen!« Wera stampfte mit dem Fuß auf.
»Was ist denn das schon wieder für eine unsinnige Diskussion? Ich glaube, nach Essen steht niemandem mehr der Sinn. Lasst uns in den Saal hinübergehen und mit der Lotterie beginnen«, sagte Olly gequält, während auch ihr rechtes Auge zu zucken begann.
Einer der Diener trat hinter ihren Stuhl. Beim Aufstehen spürte sie, dass ihr Oberkörper schwankte. Dann gaben ihre Knie nach, und Schwärze breitete sich vor ihren Augen aus. Die Ohnmacht nahm sie endlich gefangen.
»Was ist los? Geht es Olly besser?«, fragte Wera leise, kaum dass Evelyn wieder an den Tisch trat.
Noch immer außer sich vor Angst und Wut und Entsetzen, schaute Evelyn das in sich zusammengesunkene Kind an. »Jetzt bist du kleinlaut. Hättest du nur zuvor den Mund nicht gar so weit aufgerissen! Deine Tante ist gerade erst aus ihrer Ohnmacht erwacht, sie liegt bleich wie der Tod und kraftlos im Bett. Diesmal hast du den Bogen wirklich überspannt, du schreckliches Kind!« Es kostete Evelyn alle Mühe, nicht noch mehr zu sagen. Hätte Olga diesen Satansbraten doch nur nie aufgenommen!
»Dass Olly in Ohnmacht fällt, wollte ich nicht. Ich –«
Unwillig fuhr Eve herum. »Was du willst oder nicht, interessiert mich gerade herzlich wenig. Sei einfach still! Sonst musst du sofort ins Bett.« Sie winkte eines der Dienstmädchen an den Tisch und orderte Kamillentee. Nicht, dass sie glaubte, ein Kräutersud könne ihren überspannten Nerven sonderlich viel Gutes tun. Aber etwas Besseres fiel ihr nicht ein.
»Undwas ist mit der Lotterie?«, fragte Wera, während sie die Löcher im Spitzenrand ihrer Serviette vergrößerte.
»Etwas anderes hast du nicht im Sinn? Du verletzt innerhalb eines Gesprächs die Gefühle von mindestens drei Menschen, und dir fällt nichts anderes ein, als nach der Lotterie zu fragen?« Entgeistert schaute Evelyn das Kind an. Wenn Wera wenigstens hübsch wäre, schoss es ihr durch den Sinn. Wäre es dann leichter, ihr Verhalten hinzunehmen? Evelyn schnaubte. Die Frage war rhetorisch: Und wenn sie noch so lange auf das Mädchengesicht starrte – sie würde nichts Attraktives darin entdecken können.
Die blassen, fast durchscheinenden Augen. Der seltsam entrückte Ausdruck, der darin lag. Vermischt mit Trotz und einer Art universellem Unverständnis, so als wolle das Kind mit seiner Art zu schauen sagen: Ich gehöre hier nicht hin. Das ist nicht meine Welt. Der schmallippige Mund, der links schiefer zu sein schien als rechts. Die großen Ohren. Die beiden Zöpfe – Rattenschwänze aus dünnem Haar. Dazu die ganze übertriebene Mimik und Gestik. Da – wie das Kind nun eine Trotzmiene aufsetzte und die Arme vor der Brust verschränkte, nicht im Geringsten mädchenhaft! Kein Wunder, dass in Russland niemand bereit gewesen war, sie aufzunehmen. Wie hatte der Zar seiner Lieblingsschwester diese Last aufbürden können, fragte sich Evelyn nicht zum ersten Mal ärgerlich. Sascha hätte wissen müssen, dass dies für Olly zu viel war!
»Ich weiß immer noch nicht, was ich Schlimmes getan haben soll«, sagte Wera eingeschnappt. »Warum darf ich nicht fragen, ob der König bei seiner Geliebten ist?«
»Weil es sich nicht ziemt«, antwortete Evelyn enerviert. »Es gibt Themen, über die man nicht in der Öffentlichkeit spricht, ja nicht einmal im privaten Kreis. Höchstens vielleicht mit ein, zwei Vertrauten. Aber sicher nicht im Plauderton zwischen Suppe und Hauptgericht.«
»Aber die Stubenmädchen und die Frauen in der Wäscherei plaudern auch darüber. Erst gestern habe ich sie sagen hören, dass diese Amalie von Stubenqualm in ihrer Kutsche durch die Stadt fährt, als sei sie die Königin. Dabei sei sie nur das Liebchen vom König.«
»Amalievon Stubenrauch«, verbesserte Evelyn sie automatisch.
Mit verschränkten Armen schaute Wera sie an.
»Warum dürfen also die Stubenmädchen über die Geliebte plaudern und ich darf es nicht?«
»Warum, warum, warum? Darum! Und wenn dir das bisher niemand beigebracht hat, dann ist das ein fürchterliches Versäumnis, unter dem wir alle zu leiden haben, das ich jedoch nicht innerhalb von fünf Minuten wettmachen kann.« Zum wiederholten Male schaute Evelyn zur Tür. Warum kam niemand und rettete sie vor diesem schrecklichen Kind? Wo war eigentlich Wilhelm von Spitzemberg? Oder Cäsar Graf von
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