Die russische Herzogin
ihr süße Milch und Haferschleim ein, wodurch sie zu Kräften kommen sollte. Der Arzt meinte, mehr könne man nicht tun. Als wir eines Morgens den ersten Kontrollgang machten, fand Schwester Monika sie leblos in ihrem Bett. Es tut mir leid …«
»Aber woher hatte das Kind die blauen Flecken? Hat es jemand geschlagen? Überhaupt – wo stammen all die Kinder eigentlich her? Das können doch nicht lauter Waisen sein!«, rief Wera fast verzweifelt. Sie vermochte nicht zu glauben, dass Olly das, was sie hier sahen, für gut befand. Konnte sich ihre Tante nicht vorstellen, wie einsam man sich als Kind hier fühlen musste? Wie schrecklich kalt und unfreundlich die ganze Atmosphäre war? So kalt, dass einem der Atem gefror?
»Das habe ich dir doch schon erklärt«, sagte Olly. »Die Mütter sind nicht imstande, für ihren Nachwuchs zu sorgen. Wir haben sie in Beschäftigungsanstalten und Arbeitshäusern gut untergebracht. Dort wird für sie gesorgt, und sie lernen so etwas wie Regelmäßigkeit.« Sie sah Wera an. »Jedenfalls sind die meisten Mütter sehr froh, dass ihre Kleinen es hier so gut haben.«
»Manch eine ist vor allem froh, ihre Brut loszuhaben«, murmelte die Mutter Oberin mit verächtlicher Stimme.
»Das glaube ich nicht«, sagte Wera heftig. »Bestimmt vermissen die Mütter ihre Kinder Tag und Nacht! Du hast hier doch was zu sagen, Tante Olly. Wenn die Mütter auch Hilfe benötigen, warum bestimmst du dann nicht einfach, dass sie hier bei ihren Kindern wohnen dürfen? Dann könnten sie ihren Säuglingen ein Wiegenlied vorsingen. Oder sie füttern. Oder mit ihnen spielen. Reinlichkeit ist doch nicht alles im Leben, ein Kind braucht doch auch Liebe!« Sie warf der Mutter Oberin einen aufgewühlten Blick zu.
»Du Träumerin! So einfach ist das nicht …« Olly streichelte dem Säugling auf ihrem Arm über die Wange.
»Aberwarum?« Wera zeigte auf eine der Frauen, die sich mit Wischlappen und Eimer im Hausflur zu schaffen machte. »Die Mütter könnten sogar hier arbeiten, dann wären sie in der Nähe ihrer Kinder. Sie könnten saubermachen und kochen und –«
Ein Schnauben ertönte. »Das stellt sich die junge Dame leider etwas leicht vor«, sagte die Heimleiterin. »Sollen wir die Mutter, die ihr kleines Mädchen fast totgeschlagen hat, zur Belohnung etwa auch durchfüttern? Sie ist eine elende Trinkerin. Andere Mütter wiederum sind kriminell, verbüßen Gefängnisstrafen. Und wieder andere sind durch ihren liederlichen Lebenswandel krank geworden, husten sich die Lunge aus dem Leib. Alle waren in großer Not, als man ihnen die Kinder wegnahm und –«
»In großer Not! Und anstatt diese Not zu lindern, haben Sie den Frauen das Einzige genommen, was sie besaßen, ihre Kinder«, unterbrach Wera die Litanei der Frau. Der Kloß in ihrem Hals wuchs und wuchs, bestimmt war er schon so riesig wie ein Wollknäuel. Gleichzeitig kämpfte sie mit den Tränen. Sie wusste so gut, wie die Kinder sich fühlten!
»Schaut euch die Kleinen doch an. Wie traurig sie wirken, wie freudlos. Tante Olly, dagegen müssen wir was tun!«
»Es reicht, Wera. Ich habe dich nicht mit hergenommen, damit du die Arbeit der Mutter Oberin und ihrer braven Helferinnen kritisierst. Du entschuldigst dich auf der Stelle bei ihr, sonst –«
»Nein, das werde ich nicht tun!«, kreischte Wera in höchsten Tönen. »Es gibt nichts Schlimmeres, als Kinder von ihren Müttern zu trennen. Wahrscheinlich habt ihr meine Mutter auch dazu gezwungen, mich wegzugeben! Und nun soll ich das Ersatzkind für dich spielen, so wie die Kinder hier. Aber ich bin nicht dein Kind, ich habe schon Eltern. Und ich hasse dich!« Um ihre Worte noch zu verstärken, gab Wera ihrer Tante einen Tritt gegen das Schienbein.
»Von wegen große Not! Eins sage ich dir: Wenn ich einmal groß bin, werde ich dafür sorgen, dass Mütter und ihre Kinder in Not zusammenbleiben dürfen.« Mit diesen Worten stürmte sie aus dem Raum.
*
»Siesei nicht mein Ersatzkind, hat sie mich angeschrien.« Olly rieb sich den schmerzenden Nacken, danach massierte sie ihre Schläfen. Ein Hauch des Parfüms, das sie sich am Morgen auf den Haaransatz getupft hatte, wehte in ihre Nase. Wann war das gewesen? Vor tausend Stunden?
»Ich trau es mich kaum zu sagen, aber … sie hat mir tatsächlich gegen das Schienbein getreten!«
»Sie hat dich getreten? Das geht nun wirklich zu weit! Wenn du willst, werde ich sie auf der Stelle aufsuchen und züchtigen.«
Als Olly sah, wie entsetzt Karl
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