Die russische Herzogin
daher nehme ich an, dass sein Name von den weißen Pferden, also den Schimmeln herrührt. Heute wird er allerdings nur noch von Schusters Rappen benutzt, für die Fuhrleute gibt es besser ausgebaute Straßen.«
Ein dreihundert Jahre alter Weg – und sie durfte darauf laufen! Wera ging in die Hocke und versuchte, mit ihrer Hand einen der Kopfsteine abzudecken. Wie blankgewetzt er war durch Abertausende von Fußtritten. Wer mochte schon alles über diese Steine gegangen sein? Welche Last trugen die Leute dabei auf dem Rücken? Als sie weitermarschierten, kam sich Wera vor wie die Pilger, von denen in der Bibel immer wieder die Rede war.
Irgendwann lichteten sich die Häuser, und immer mehr Weinstöcke säumten ihren Weg. In einer Kurve nach einem besonders steilen Wegstück blieb Lutz von Basten stehen. »Darf ich vorstellen – unser schönes Stuttgart!«
Fast ehrfurchtsvoll schaute Wera auf die Stadt, die eingebettet wie die Perle in einer Muschel unter ihnen lag. In der Mitte war groß das Schloss zu sehen, und davor der Schlossplatz. Und lag dort hinten nicht der Rosensteinpark, in dem Evelyn und sie einst spazieren gegangen waren? Und da – die Villa Berg!
»So schön habe ich Stuttgart bisher gar nicht empfunden«, gab Wera leise zu. Ollys Zuhause besaß zwar nicht so viele Kanäle und Flüsse wie St. Petersburg, auf seine Art war es aber auch sehr hübsch.
Lutz von Basten lachte. »Ja, manchmal muss man erst einen Schritt zurücktreten, etwas Abstand haben sozusagen, um die Schönheitvon etwas zu erkennen. Wenn Sie einverstanden sind, führe ich Sie in die Degerlocher Weinberge. Ich kenne ein lauschiges Plätzchen, das wunderbar für eine Brotzeit geeignet wäre.«
Weras Augen glänzten. Eine »Brotzeit« – wie urtümlich sich das anhörte! Dabei würde sie das Essen in die Hände nehmen dürfen, Messer und Gabel wären unnötig, hatte Frau Öchsele ihr am Morgen erklärt. Sie konnte es kaum erwarten, endlich auch einmal mit den Händen zu essen, so, wie Margitta es immer tat, wenn sie ihr etwas brachte. Dennoch sagte sie:
»Von mir aus können wir gern ein Stück weiterlaufen, ich bin noch gar nicht müde.«
Der Unteroffizier warf ihr einen anerkennenden Blick zu.
»Mir scheint, Sie sind aus kräftigem Holz geschnitzt. Nun wundert es mich nicht mehr, dass unsere hochverehrte Kronprinzessin Ihnen eine Wanderung ohne weiteres zutraute. Wenn Sie mögen, marschieren wir noch eine Schleife weiter. Aber ich warne Sie, von nun an geht’s über Stock und Stein. Andererseits …« Lutz von Basten grinste. »So geschwind, wie Sie die unebenen Stäffele genommen haben, sind Sie anscheinend gut zu Fuß.«
Wera glaubte vor Stolz und Glückseligkeit zu platzen.
Sie waren ein paar hundert Meter gelaufen, als Lutz von Basten erneut stehen blieb. »Sehen Sie das gelbe viereckige Gebäude hinter der Platanenallee? Das ist das Gymnasium, das Gustav Schwab einst besucht hat.«
Wera nickte, als sei ihr völlig klar, von wem ihr Begleiter sprach. Ein Freund vielleicht, dachte sie.
»Sagen Sie bloß, Sie haben noch nie von diesem berühmten Heimatdichter gehört?«, sagte der junge Unteroffizier, der ihren skeptischen Blick zu deuten wusste. »Wie lange, sagten Sie, sind Sie schon in Württemberg?«
»Was ist denn so Besonderes an diesem Gustav Schwab, dass man ihn unbedingt kennen muss?«, fragte sie, während sie über eine ausgetrocknete Pfütze sprang.
»Nun, zum einen war er auch ein begeisterter Wanderer, allein dasmacht ihn schon bemerkenswert. Er hat viele wunderbare Gedichte über seine Wandererlebnisse geschrieben. Naturbeobachtungen, Momente der inneren Einkehr, Begegnungen mit Menschen.« Lutz von Basten schob Weras Rucksack, der auf ihre rechte Seite verrutscht war, wieder zurecht. »Zum anderen hat Gustav Schwab viele griechische und römische Sagen ins Deutsche übersetzt. Als Kind konnte ich von seinen spannenden Geschichten nicht genug bekommen.«
Wera seufzte. Anscheinend gab es vor Büchern in ihrem Leben kein Entrinnen. Nicht genug, dass Margitta immer nur lesen wollte. Nun entpuppte sich auch noch Lutz von Basten als Bücherliebhaber. Wie begeistert er davon sprach – womöglich verpasste sie doch etwas? Sie räusperte sich.
»Die Bücher, von diesem Gustav Schwab, ob Sie mir davon mal eins ausleihen könnten?«
Lutz nickte. »Natürlich. Wenn Sie mir versprechen, es mir heil und wohlbehalten wieder zurückzugeben.«
Wera, die daran denken musste, wie Wily und sie aus den
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