Die russische Herzogin
Trupow aus dem Fenster. Regen, nichts als Regen. Und das seit Tagen schon. In kleinen Rinnsalen troff er die beschlagenen Fensterscheiben hinab, in großen Tropfen klatschte er aufs Dach, unaufhörlich rann er glucksend durch die Dachrinnen, die in Stuttgart nicht wie in St. Petersburg auf den Gehsteigen endeten und Fußgänger nass spritzten. In Stuttgart wurde das Regenwasser entweder in Eimern gesammelt oder direkt in die Kanalisation geführt.
Als ob das die Sache besser machte, dachte die Gouvernante mürrisch und schaute sich in der Düsternis ihrer Wohnung um. Wie gern wäre sie jetzt in St. Petersburg, wo in diesen Junitagen die Zeit der weißen Nächte begann! Wo die Tage von goldenem Sonnenlicht bestrahlt wurden, wo die Nächte hell waren und silbriges Licht die Stadt verzauberte. Und dann die vielen Feste, die es überall gab! Man feierte das Leben und sich selbst.
Auch in Stuttgart wurde viel gefeiert, das hatte Helene inzwischen mitbekommen. Vor allem in der Villa Berg jagte eine Veranstaltung die nächste: Gartenfeste, kleine Kostümfeiern, große Diners, Musikabende und mehr. Die Kronprinzessin war eine versierte Gastgeberin, der kein Aufwand zu groß erschien, um ihre Gäste zu verwöhnen. Dementsprechend gern kamen die Menschen zu ihr.
Was heute wohl gefeiert wurde? Fünf Tage Regenwetter? Mit einerSpur Neid betrachtete Helene Trupow von ihrem Fenster aus die buntgemischte Gruppe aus Aristokraten, Künstlern, Unternehmern und Gott weiß wem noch, die nach und nach in Kutschen oder sogar zu Fuß vor der Villa eintrafen. Jung und Alt kam zusammen, alle vereinte die frohe Stimmung, die durch den Park und die Villa wehte, als herrschte eitel Sonnenschein. Sie, Helene, hätte auch gern mitgefeiert. Ein Glas Sekt oder zwei, ein bisschen parlieren und schäkern … Sie wäre zufrieden gewesen, einen Platz am Rande des Saales einzunehmen, am hinteren Ausgang zur Küche, dort, wo es zog und die Diener ständig an einem vorbeiwuselten. Zur Not hätte sie es sogar in Kauf genommen, Wera an ihrem Tisch zu beaufsichtigen. Aber das Kind war wie sie an diesen Abenden nicht erwünscht.
Das Kind … Helenes Miene verfinsterte sich noch mehr. Weras Disziplinierung lief keineswegs so ab, wie sie es sich vorgestellt hatte. Aber war es denn ein Wunder? Statt dass man ihr vertraute, wurde ihr Zögling regelmäßig in die Obhut eines Unteroffiziers gegeben. Ein Unteroffizier … Wenn sie das Weras Eltern schrieb – Großfürst Konstantin wäre entsetzt!
Abrupt wandte sich Helene vom Fenster ab. Welchen Illusionen gab sie sich bloß hin. Als ob sich Weras Eltern auch nur einen Deut für ihre Tochter interessierten. Das Kronprinzenpaar, Weras Eltern, Olgas rechte Hand Evelyn von Massenbach – niemand scherte sich um das Mädchen! Alle waren froh, die Hauptarbeit auf sie, Helene Trupow, abwälzen zu können. Erst gestern wieder hatte Helene die Kronprinzessin darauf angesprochen, dass sich Wera oft heimlich davonstahl und dann stundenlang unauffindbar war. Aber hatte das auch nur eine Menschenseele interessiert?
»Das Kind wird wohl im Park spielen«, hatte Olga leichthin abgewinkt. »Seien Sie doch um Himmels willen nicht so streng mit ihr.«
Von wegen streng! Helene schnaubte. Wenn sie so weitermachte, würde ihr mühsam errungener Ruf als beste Gouvernante aller Zeiten bald ruiniert sein. Vorhin, als sie Wera in ihrem Zimmer hattebesuchen wollen, fand sie wieder einmal nur ein leeres Bett vor. Von der russischen Großfürstin keine Spur.
Vom Eingangsbereich her erklang hysterisches Lachen – die Herrschaften schienen sich wieder einmal bestens zu amüsieren. Und wenn schon, dachte Helene bei sich. Eigentlich hatte sie gar keine Zeit, Olgas Fest zu besuchen. Viel zu lange hatte sie die Zügel schleifen lassen, nun war es höchste Zeit, neue Saiten anzuschlagen. Sie band sich ein Kopftuch um, dann machte sie sich auf den Weg, um ihren herumstreunenden Zögling zu suchen.
*
»Dass du einmal freiwillig deine Nase in ein Buch stecken würdest, hätte ich nicht gedacht. Was liest du da?«, sagte Margitta, als Wera mit einem Buch unter dem Arm auf dem Dachboden erschien.
Wera grinste. »Brauchst nicht zu glauben, dass alle Bücher dieser Welt nur für dich da sind. Eigentlich wollte ich einfach nur mal schauen, was am Lesen so großartig sein soll. Aber inzwischen verstehe ich, was ihr, du und Lutz, daran findet – man taucht in eine ganz andere Welt ein.«
»Und kann die Welt um einen herum vergessen«,
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