Die russische Herzogin
Gedichtbänden, die Karl ihr geschenkt hatte, ein loderndes Lagerfeuer gemacht hatten, bejahte dies überschwänglich.
»Das längliche Gebäude dort unten rechts ist übrigens die Stadtbücherei, sehen Sie sie? Und das dreieckige Gebäude gleich hinter dem Karlsplatz ist das Waisenhaus. Wenn ich mich nicht täusche, steht Ihre Tante, unsere verehrte Kronprinzessin, diesem Haus vor.«
Weras Blick verdüsterte sich. Noch so ein Heim, in dem Kinder ein armseliges Leben ohne ihre Eltern fristen mussten. Davon wollte sie nichts wissen. Und sie wollte ihre Tante auch nicht mehr in solche Häuser begleiten, ihr hatte das eine Mal gereicht! Sie tippte dem Unteroffizier, der immer noch versonnen auf die Stadt starrte, auf den Ärmel.
»Gehen wir weiter oder schlagen wir hier Wurzeln?«
Noch nie hatte ein Stück Brot so köstlich geschmeckt, noch nie war ein Apfel so saftig gewesen. Als Lutz von Basten Wera sein Taschenmesserlieh, damit sie den Apfel in Schnitze teilen konnte, griff sie mit zittrigen Fingern danach. Ein echtes Taschenmesser, wie Nikolai eins besaß! Doch schon im nächsten Moment nahm Lutz es ihr wieder ab.
»Halt! Sie schneiden ja außer dem Kerngehäuse den halben Apfel weg. So müssen Sie das machen …«
Mit großen Augen schaute Wera ihm zu.
»Jetzt Sie.« Er reichte ihr das Messer erneut.
Und Wera, der bei Tisch ständig Messer oder Gabel aus der Hand fielen, Wera, die Mühe hatte, eine Schale Kompott zu essen, ohne dabei Erdbeerbäche und Blaubeerseen entstehen zu lassen, teilte den zweiten Apfel in perfekte Schnitze. Das Kerngehäuse legte sie fein säuberlich daneben.
»Die Birne auch?«
Der junge Unteroffizier nickte. »Wir futtern jetzt alles weg, was die königliche Hofküche uns eingepackt hat, es wäre ja schade um die guten Sachen. Übrigens, wenn Sie mögen, dürfen Sie mich Lutz nennen.«
Wera blinzelte. »Und ich bin die Wera«, hauchte sie. Wenn sie das Sophie nach Holland schrieb!
Feierlich gaben sie sich die Hand.
»Aber das bleibt unter uns, nicht wahr?«, sagte der Ulanenunteroffizier. »Ich will keinen Ärger mit der Kronprinzessin oder sonst jemandem, nur weil ich dir das Du erlaube. Aber Wanderbrüder siezen sich nun mal nicht.«
Wera konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so glücklich gewesen war. Die Klinke fast noch in der Hand, fiel sie ihrer Tante um den Hals, und die Erlebnisse des Tages sprudelten aus ihr heraus.
»Ach Tante Olly, euer Württemberg ist wirklich wunderschön!«, endete sie ihren enthusiastischen Bericht. »Kein Wunder, dass die Heimatdichter nicht müde werden, darüber Geschichten und Gedichte zu schreiben.«
»Die Heimatdichter?« Olly wirkte irritiert.
»Ichrede von Gustav Schwab«, sagte Wera in leicht ungeduldigem Ton. »Er war begeisterter Wanderer.«
»Wirklich? Dein Onkel hat Gustav Schwabs vollständige Werke in seiner Bibliothek.«
Wera strahlte. »Umso besser, dann muss ich mir die Bücher nicht von Lutz, äh, Herrn von Basten ausleihen.« Sie konnte das Gähnen gerade noch hinter ihrer Hand verstecken.
Beim Abendessen saß Wera gesittet am Tisch, ohne auch nur einmal mit dem Stuhl zu ruckeln. Sie löffelte ihre Suppe, aß den Fisch und beteiligte sich am Tischgespräch, alles ebenfalls gesittet und manierlich. Für andere Aktivitäten war sie schlicht zu müde.
Evelyn und Olly schauten sich triumphierend an. War es also doch richtig gewesen, Sophies Anregung aufzugreifen! Selbst Karl, der noch immer einen Groll gegen Wera hegte, musste zugeben, dass sie wie ausgewechselt war. Ein Eindruck, den auch Madame Trupow am nächsten Tag zähneknirschend bestätigte. Wera habe ihr mitgeteilt, dass sie am Vorabend noch ein paar von Gustav Schwabs Gedichten gelesen habe. Diese hätten ihr so gut gefallen, dass sie nun in Erwägung ziehe, selbst auch einmal zur Feder zu greifen. »Die Eidechse« sollte ihr erstes Gedicht heißen. Von Madame Trupow wollte sie lediglich wissen, wie man das »Dichten« anstelle, woraufhin die Gouvernante Wera an ihren Deutschlehrer verwiesen hatte. Dass der Wildfang dichten wollte, war Madame Trupow – wie die ganze Angelegenheit – äußerst suspekt, dennoch blieb ihr nichts anderes übrig, als sich den Wünschen ihrer Arbeitgeber zu beugen, so wie sie es schon immer getan hatte.
Von dem Tag an war es beschlossene Sache: Lutz von Basten wurde ein- bis zweimal wöchentlich von seinen Regimentspflichten freigestellt, um mit Wera wandern zu gehen.
11. KAPITEL
M issmutig schaute Helene
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