Die russische Spende (Stationsarzt Dr. Felix Hoffmann) (German Edition)
Kompetenz von Harald anvertraut, weil er nur eine Putzhilfe aus Kiew war? Vielleicht ist meine Beunruhigung für den Nicht-Arzt schwer zu verstehen. Es geht um schlechtes Gewissen, aber es geht auch um ärztliche Neugierde. Und um meine medizinische Ehre. Eine beginnende, sogar noch lebensbedrohliche Erkrankung zu übersehen ist inakzeptabel. Hatte ich damals tatsächlich etwas übersehen, könnte das heute wieder passieren, und weitere Patienten könnten sterben. Unmöglich, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Durch eine Sektion war der Fall nicht mehr zu klären. Aber der Königsweg zur richtigen Diagnose ist die Erhebung der Krankengeschichte. Also mußte ich mir so viele Informationen wie möglich über die letzten Monate im Leben des Mischa Tschenkow verschaffen.
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Seit Mischas Gastspiel als Tbc-Verdacht auf meiner Station waren fast acht Monate vergangen, inzwischen war Sommer und Europameisterschaft in Holland. Celine hatte die Pizza von neulich abend eingefroren und Deutschland-Rumänien auf Video aufgenommen. Ich bin kein wirklicher Fußballfan und außerdem wußte ich, daß das Spiel eins zu eins ausgegangen war. Also aßen wir mit viel Vergnügen und viel Ketchup unsere Pizza und liebten uns dann mit ebenso viel Vergnügen, einmal während der ersten Halbzeit (Celine auf mir) und erneut während der zweiten Halbzeit (ich auf Celine). Weniger erfreulich, daß zwei Tage nach Mischas Tod Harald, nun auch schon neun lange Monate mein Arzt-im-Praktikum, aus seinem Griechenlandurlaub zurückgekehrt war, was die Stationsarbeit wieder deutlich verlangsamte.
Schreiber ging mir aus dem Weg. Ich hatte ihn noch einmal auf den neuen Totenschein angesprochen, bekam aber nur irgendeine patzige Antwort. Allerdings war Schreiber auch ziemlich beschäftigt. Er hatte ein Fortbildungsjahr im Mount-Sinai-Hospital in New York beantragt, ziemlich große Sache für die Karriere, und die Entscheidung, ob er fahren dürfte oder nicht, war in diesen Wochen fällig. Entschieden werden solche Dinge im Zentralkomitee, also konnte seine Parole nur sein, nicht aufzufallen, höchstens durch großen Fleiß, geringen Verbrauch teurer Medikamente und kurze Liegezeiten auf seiner Station.
Seit einem guten Jahr waren wir nicht mehr Angestellte im öffentlichen Dienst. Wie viele andere war auch unsere Klinik in eine GmbH umgewandelt worden, und der Druck zu Einsparungen hatte deutlich zugenommen. Man durfte am Ende eines jeden Monats auf einem Computerausdruck studieren, wie sich die Liegezeiten und der Medikamentenverbrauch im Vergleich zum Vormonat, zum Vergleichsmonat des Vorjahres und, besonders wichtig, im Vergleich zu den anderen Stationen verhielten. Überschreitungen von mehr als fünf Prozent führten unweigerlich zu einer Einladung vor das Zentralkomitee, im Wiederholungsfall durfte man sich auch gegenüber Dr. Bredow, dem kaufmännischen Direktor unserer Besten-aller-Kliniken, rechtfertigen.
Zwar war Mischa dank seines Ablebens nicht erneut zu einem Kostenfaktor für die Klinik geworden, dennoch ging er mir nicht aus dem Sinn. Letztlich war es die Patientin Gertrud Schön, Einweisungsdiagnose »unklare Gelbsucht«, deren gelbes Hautkolorit zwar nur schwach an den tiefgelben Mischa erinnerte, aber den letzten Anstoß gab, mich endlich an die Aufklärung seines Todes zu machen. Frau Schön schien mir nicht akut bedroht, und die diagnostischen Schritte bei Gelbsucht sind auch in dem kürzesten Lehrbuch nachzulesen. AIPler Harald auf Frau Schön anzusetzen sollte ihn nicht überfordern, mir aber Zeit für Mischa geben. Allerdings hatte ich die Situation falsch eingeschätzt. Als ich Frau Schön am nächsten Tag sah, war sie inzwischen fast so gelb wie neulich Mischa, und es ging ihr schlecht.
AIPler Harald war unverändert überzeugt, daß der Beweis, sich fleißig um einen Patienten zu kümmern, direkt proportional zur Menge der angeforderten Laboruntersuchungen ist. Er hatte literweise Blut ins Labor geschickt, auf Hepatitis A, B und C, auf hämolytische Anämie, auf Leptospiren, Typhus, Toxoplasmose, Trypanosomen, Rickettsien, Amöben, Gelbfieber und Fleckfieber und natürlich auch auf Syphilis und AIDS. Unbeeindruckt von Haralds Meinung, man müsse in der Zeit des Massentourismus auch bei uns mit Gelbfieber und Fleckfieber rechnen, erlaubte ich mir den Bauch von Frau Schön anzuschauen. Die Bauchdecken waren gespannt, aber noch eindrückbar. Im rechten Oberbauch, direkt über der Galle, ließ sich ein deutlicher Druckschmerz
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