Die Saat der Bestie (German Edition)
erwacht ihr Zimmer zum Leben. Die Flamme wird größer und drängt die Nacht in die Ecken des Raumes zurück.
Sam blickt sich um. In dem großen Spiegel, der ihrem Bett gegenüber an der Wand hängt, kann sie den hellen Punkt der Kerzenflamme erkennen. Ihr Gesicht ist nicht mehr als ein weißer Fleck, der auf einem weißen Kissen liegt.
Sie steht auf und zieht ihre Kleider an. Dann nimmt sie die Kerze und geht zum Fenster. Sie hat es geöffnet, als sie sich schlafen legte. Sam entriegelt den Holzladen und stößt ihn einen Spalt nach außen. Die Luft ist trocken und warm. Der Regen der vergangenen Nacht hat sie gereinigt und eine angenehme Brise zurückgelassen, die nach Erde und Bäumen duftet. Die Blätter der Baumkronen flüstern leise im Wind, im Garten neigen sich Gräser und Büsche und erinnern Sam an die ruhigen Wellen eines Meeres. Der Mond steht als blasse Scheibe am Himmel und taucht die Stadt in einen unwirklichen Schein.
Hinter dem Garten kann sie die dunklen Silhouetten anderer Häuser aufragen sehen. Finstere, schwarze Schatten, die wie gigantische Zähne aus der Erde ragen. Nirgends brennt Licht, keine leise Musik erfüllt die Luft, kein Hund bellt. Die Stadt ist so still wie der Rest der Welt.
In den Nächten mag Sam das Schweigen. Es erinnert sie an die Nächte in ihrem früheren Leben. Wenn sie mit Mike, ihrem Freund, auf der Veranda gesessen und einfach nur schweigend in den Himmel gestarrt hatte. Sie liebte es, die Wolken zu beobachten, die in einer majestätischen, lautlosen Parade am Mond vorbeizogen, für wenige Augenblicke in ein glühendes Grau getaucht wurden, um dann wieder im Niemandsland des Himmels zu verschwinden. Damals hatte sie die nächtliche Stille als perfekt empfunden. Sie saß oft stundenlang neben Mike, kuschelte sich in seinen Arm und hing ihren Gedanken nach, während die Welt um sie herum schlief.
Heute weiß sie, dass die Städte, Häuser und Straßen sich nicht einfach nur zum Schlafen niedergelegt haben. Heute weiß sie, dass die Welt tot ist.
Sam schließt den Laden wieder, lässt das Fenster einen Spalt breit offen und geht zum Bett zurück. Sie spielt mit dem Gedanken, nach unten zu gehen, um etwas zu essen. Doch dann setzt sie sich aufs Bett und blickt sich im Zimmer um.
Etwas ist anders.
Sie kann nicht sagen, was sich verändert hat.
Die Kerze brennt ruhig und wirft lange Schatten an die Wände. Sie sieht sich selbst im Spiegel auf dem Bett sitzen, ihr Haar zerzaust, die Bluse wie ein Umhang über ihren Schultern.
Sam sucht. Sie sucht nach irgendetwas, das anders ist als vorher. Etwas, das nicht mehr an seinem Platz liegt oder verschwunden ist. Doch das Zimmer ist ebenso still und verschlafen wie zuvor.
Und doch …
Sie kann es in der Luft spüren, als würden sich die Schatten des Zimmers näher an sie heranschleichen. Fast kann sie die kalten Berührungen dunkler Hände auf ihrem Körper spüren. Sie friert plötzlich.
Sam kennt das Gefühl. Sie hat es schon einmal in dieser Stadt gespürt. Das erniedrigende, lähmende Gefühl, beobachtet zu werden.
Sie geht zum Fenster und spielt mit dem Gedanken, den Laden zu öffnen. Doch eine innere Unruhe hält sie davon ab. Stattdessen schließt sie das Fenster und bleibt unschlüssig mitten im Raum stehen. Mehrere Minuten lauscht sie angestrengt in die Nacht.
Sie denkt an David, der im Erdgeschoss schläft, und den sie noch nicht richtig einschätzen kann. Er wirkt zurückhaltend, geradezu verschüchtert. Doch da ist etwas in seinen Augen, das sie nicht einordnen kann. Etwas, das sich in seinem Innern versteckt.
Die Vorstellung, dass es ausgerechnet diese Augen sein sollen, die sie beobachten, ist für Sam vollkommen absurd, so intensiv das Gefühl auch sein mag. Vielleicht würden ihre Gedanken länger bei David verweilen, gäbe es da nicht die schreckliche Tatsache, dass sie dieses Gefühl, von etwas Fremdem angestarrt zu werden, schon einmal wie feine, spitze Nadeln auf der Haut gespürt hatte.
Dieses Geschöpf, das sie in der vergangenen Nacht als Schemen im Spiegel des Bekleidungsgeschäftes gesehen hatte, musste sie gefunden haben. Es hat sie verfolgt und gefunden ...
Der Gedanke sticht wie ein glühender Dolch in ihren Verstand und lässt ihr Herz rasen.
Es hat mich verfolgt , denkt sie und spürt, wie sich aufsteigende Panik ihren Weg bahnt. Es hat mich den ganzen Tag beobachtet, jede Minute, jede meiner Bewegungen. Und jetzt weiß es, dass ich hier bin.
Sam blickt sich im Zimmer um, sucht nach
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