Die Saat der Erde Roman
Überflüssigen. »Urteile stehen nur Lauschern zu, nicht Gelehrten!«
Dann entfernte er sich und schritt zur Kuppe der Erhebung. »Beeil dich - trödle nicht! Das Zinsilu wird bald beginnen.«
Mit seinen längeren Beinen hatte Faldri die Kuppe schneller überquert als Chel, der laufen musste, um ihn einzuholen. An der anderen Seite führte der Weg in belaubtes Unterholz hinunter, in ein dichtes Gewirr von Büschen und kleinen Bäumen, durchsetzt mit Kletterpflanzen und Borgerkraut. Faldri schritt geduckt durch die dunkle Öffnung, und Chel folgte ihm. Ein unebener Weg schlängelte sich zwischen bemoosten Bäumen einher und mündete auf eine Lichtung mit drei großen Vaskin-Bäumen, die einen stillen Tümpel umstanden. Lauscher Faldri kniete mit geschlossenen Augen zwischen zwei Bäumen nieder und murmelte vor sich hin, die Hände vorgestreckt, mit den Handflächen nach oben. Aus einer hoch gelegenen Lücke im Laubdach fiel Sonnenschein herab, und als Chel näher trat, bemerkte er einen feinen Tropfennebel, der zwischen den drei glatten, geraden Stämmen hing.
Chel wurde immer unbehaglicher zumute. Das hier war ganz anders als sein voriges Zinsilu, bei dem er in einer angenehmen Umgebung mit älteren Gelehrten eine faszinierende
Unterhaltung über die weitere Ausrichtung seiner Ausbildung geführt hatte. Dieser Ort hingegen erinnerte ihn an seine Vudron-Nachtwachen, abgesehen davon, dass der Ort eher ernst und düster wirkte, anstatt ruhig und kontemplativ.
Als er weiter vortrat, sträubte sich ihm der Pelz an Kopf und Hals. Faldri verharrte in seiner Haltung, die Hände vorgestreckt, unablässig vor sich hinmurmelnd, das Gesicht unter der Kapuze kaum zu erkennen. Chel blieb am Rande des Tümpels stehen, dessen Oberfläche hin und wieder erzitterte. Als er nach oben blickte, sah er den fallenden Nebel und ein unstetes silbriges Leuchten. Chel stand eine Weile schweigend da, dann setzte er zu einer Bemerkung an, doch Faldri, der die Augen noch immer geschlossen hatte, schwenkte abwehrend die Hand. Warte noch.
Die Zeit verstrich. Chel atmete langsam ein und aus, wurde ruhiger, roch und schmeckte die Gerüche des feuchten Waldes und der grünen Blätter. Dann verstummte Faldris Gemurmel, und er atmete vernehmlich durch.
»Das Tor ist offen, Großer Älterer. Dein Diener wartet.«
Die Stimme des Lauschers schien in Chels Ohren widerzuhallen. Seine Sinne summten die Lebensmelodie des Tochterwaldes immer vernehmlicher mit, sie stieg in seinem Körper hoch wie ein Strahl reiner Energie, wanderte durch seine Gliedmaßen, seine Adern, sein Rückgrat. Und auf einmal spürte er die Anwesenheit der heiligen Segrana … und noch etwas anderes. Dort im leuchtenden Nebel über dem Tümpel war verschwommen eine große Gestalt zu erkennen, gehüllt in ein langes Gewand.
Chel betrachtete sie voller Ehrfurcht und Angst. Faldri hatte den Großen Älteren angerufen, und auf einmal wusste Chel, dass er einen der legendären Pfadmeister vor sich sah.
Aber man sagt, der Letzte sei nach dem Krieg der Langen Nacht gestorben, dachte er. Wie sollte das zugehen, dass nach Tausenden Jahren noch einer von ihnen lebt?
»Es gibt keinen Tod«, sagte eine seufzende Stimme. »Nur die Art und Weise, wie das Universum uns träumt, wandelt sich …«
Chel neigte unwillkürlich den Kopf, seine Gedanken in Aufruhr. Die langlebigen Pfadmeister waren die dritte Erscheinungsform der Uvovo, die nur den weisesten, verständigsten Lauschern erreichbar war. Der Krieg der Langen Nacht hatte die Uvovo jedoch dezimiert und Segrana eines großen Teils ihrer uralten Kraft beraubt, die für die dritte Verpuppung unverzichtbar war. Die überlebenden Uvovo waren auf den Waldmond beschränkt gewesen, ihre Geschichtsüberlieferung dünnte nach dem Verschwinden der Pfadmeister aus und ging ins Reich der Legenden ein, ihr Wissen verkam zur Litanei und ihre Gebräuche zum Ritual, bis die Menschen auftauchten.
»Die Träume dauern fort«, seufzte der Pfadmeister. »Je stärker der Träumer, desto beständiger der Traum. Einige Träume wirken nach außen und streben nach der Einheit mit dem Ewigen; andere Träume wirken nach innen, Träume von Hunger und Eroberung, von Schmerz und der Überwindung des Schmerzes. Manche träumen überhaupt nicht. Cheluvahar, träumst du?«
»Großer Älterer, ich …« Er wurde von Panik erfasst, sein Kopf war auf einmal leer. »Ich habe in letzter Zeit geträumt, doch ich kann die Einzelheiten nicht mehr fassen.«
»Ich weiß, ich
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