Die Saat der Finsternis (German Edition)
von dem Amulett erzählen, dessen Bedeutung er nicht kannte, das ihn aber vor dem Drachen bewahrt hatte? Das Amulett, das er Maggarn gegeben hatte …
„Ich weiß es nicht“, erwiderte er schließlich. „Ich bin dem Drachen dort unten begegnet und er hat mich ziehen lassen. Womöglich erinnert er sich an mich.“
„Lys“, sagte Kirian alarmiert und griff nach seinen Händen. Lys wusste, wenn sich das Grauen, das er bei dem Gedanken an den Drachen, an Nikor und Erek empfand, nur zur Hälfte in seinem Gesicht widerspiegelte, dann musste er wie der wandelnde Tod aussehen. Er klammerte sich an ihm fest, bis er seine Fassung wiedergewonnen hatte.
„Wir müssen nicht …“, begann Kirian, doch Lys winkte ab.
„Es wäre warm in diesem Tunnel“, sagte er gepresst. „Das wäre eine Abwechslung. Falls es uns erwischt, dann schnell, vielleicht sogar schmerzlos. Und ja, es ist der einzige Weg, bei dem es eine winzige Hoffnung auf Überleben gibt.“
„Wenn du bereit bist, lass uns gehen.“ Kirian ließ ihn nicht los, sondern küsste ihm jeden Finger einzeln, langsam und zärtlich, sah ihm dabei tief in die Augen. Lys erschauderte. Es war dieser Blick gewesen, aus schwarzen Tiefen, in denen lebendiges Feuer loderte, in den er sich sofort verliebt hatte.
„Ich wünschte, ich könnte mich an die Jahre erinnern, die wir gemeinsam verbracht haben“, flüsterte Kirian. „Ich liebe dich, Lys. Der Gedanke, dass ich all das, was du auf dich genommen hast, um mich zu retten, nicht wert bin, ist furchtbar. Wenn ich könnte, würde ich dir zeigen, wie dankbar ich bin. Nicht einmal dafür bleibt uns Zeit.“
Lys konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, die in seinen Augen brannten. Wie sollte er Kirian sagen, dass sie sich zwar seit drei Jahren kannten, zusammengenommen aber keine drei Monate miteinander hatten verbringen dürfen, sich immer nur heimlich und für kurze Momente getroffen hatten? Dass die Wochen, die sie in der Mine und auf der Flucht zusammen durchlebt hatten, die bislang längste Phase überhaupt waren? Wochen, die in Hoffnungslosigkeit begonnen hatten, von Todesangst unten im Stollen überschattet wurden und hier, bei dem Versuch die Eisenberge zu bezwingen, auch nur von Gefahr und Schmerz geprägt waren?
Lys presste sein Gesicht in Kirians Handflächen und kämpfte gegen die Verzweiflung an, die ihn zu überwältigen drohte. Zu viel, viel zu viel war geschehen. Doch jetzt war nicht der Moment, um zusammenzubrechen. Er musste stark sein, für Kirian, für Marjis und für die Hoffnung, dass irgendwann, irgendwie alles gut werden würde. Einen Moment des Glücks, den mussten die Götter vielleicht noch für ihn übrig halten …
*
„Hier ist es“, sagte Lys und wies auf den Spalt in der Felswand, an der Kirian gerade vorbeilaufen wollte. Kirian musste tatsächlich zweimal hinsehen, bevor er ihn erkannte, doch sobald man einmal wusste, wo er war, fand man ihn sofort. Lys hatte sich bereits hindurchgequetscht, langsam und vorsichtig, um Marjis nicht zu verletzen, die er sich wieder vor den Bauch gebunden hatte. Kirian folgte und war überrascht von dem Ausmaß der Höhle, die sich dahinter öffnete. Obwohl recht viel Tageslicht durch den Spalt sickerte, konnte er die gegenüberliegende Wand nicht erkennen. Es war wärmer hier drinnen, nicht viel, aber jedes bisschen war willkommen. Lys hatte gesagt, dass sie für den Hinweg ungefähr acht Stunden gebraucht hatten, mit einem kundigen Führer und bei voller Kraft und Gesundheit. Für den Rückweg rechnete er mit mindestens der doppelten Zeit, weil sie viele Pausen benötigen würden. Falls sie die andere Seite jemals erreichen sollten …
„Dort sind die Fackeln. Eine reicht für etwa drei bis vier Stunden.“
Kirian nickte und folgte Lys’ Wink zu der rechten Höhlenwand. Hier lag ein ganzer Stapel großer Fackeln, so viele, dass die Fünf, die er sich nahm, gar nicht auffielen. Er verstaute vier in seinem Bündel, eine zündete er an.
„Nun gilt es“, flüsterte Lys mit schwankender Stimme. Er war wieder so bleich, das Gesicht von Grauen verzerrt. Kirian wünschte, er könnte ihm helfen. Er bewunderte den Mut, mit dem Lys sich seiner Angst stellte. Was auch immer ihm dort in dem Tunnel begegnet war, es musste furchtbar gewesen sein.
Mitfühlend legte Kirian ihm eine Hand auf die Schulter. Lys drückte sie mit einem müden Lächeln, wandte sich ihm dann ganz zu und gab ihm einen innigen Kuss.
„Ich liebe dich“, wisperte er.
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