Die Saat der Finsternis (German Edition)
Oberhaupt aller Priester von Onur.“ Mühsam gab Lys einen Laut von sich, von dem er hoffte, dass er ehrerbietig klang. So, wie er hier seitlich verdreht am Boden lag, mit Kirian im Arm, der sich mittlerweile wieder zu rühren begann, konnte er nicht einmal nicken.
Lark und ein weiterer Priester halfen, Kirian auf das Bett zu legen und drängten dann auch Lys zurück auf sein Lager.
„Verzeiht das Chaos, wir waren nicht darauf gefasst, dass unsere Anwesenheit so viel Unruhe erzeugen würde“, sagte Nayamé. „Wir waren begierig, Eure Geschichte zu hören, denn, wie Ihr wisst, haben wir Euch nur in großer Sorge auf diese gefährliche Reise ziehen lassen“, fiel Onjerro ein. „Ihr wisst, wie viel Hoffnung wir in Euch setzen, junger Fürst von Corlin.“
„Ihr überschätzt mich und meine Bedeutsamkeit. Ich war wochenlang fort, und wie man sieht, ist das Königreich daran nicht zugrunde gegangen“, widersetzte Lys müde.
Nayamé beugte sich zu ihm herab und blickte ihm forschend in die Augen, als würde sie etwas suchen. Die Berührung ihrer kühlen Fingerspitzen auf seiner Stirn war seltsam wohltuend, als würde sie einen Schmerz besänftigen, den er vorher nicht einmal wahrgenommen hatte, der ihn nun aber umso heftiger quälte.
„Zweimal habt Ihr der Kreatur der Schatten gegenübergestanden, nicht wahr?“, wisperte sie. „Lark erzählte, dass der Dreigehörnte zu Euch gekommen ist, obwohl sich dieser seit Jahrhunderten nicht mehr gezeigt hat – zumindest niemandem, der anschließend noch davon zu erzählen wusste.“
„Das Amulett hatte ihn beim ersten Mal angezogen“, antwortete Lys, der sich im Moment auf ähnliche Weise von Nayamés Blick in den Bann geschlagen fühlte.
„Noch etwas, was wir nicht vorausgesehen haben. Sagt mir, junger Fürst, wie erging es Euch, nachdem Ihr das erste Mal lebendig dem Berg entronnen ward? Habt Ihr die Götter gepriesen und seid voll neuer Tatenkraft weitergezogen? Oder habt Ihr etwas von der Dunkelheit dieser Tiefen mit Euch genommen?“
Lys starrte sie beunruhigt an.
„Ich war voller Zweifel, ob ich das Richtige tue, viel stärker als zuvor. Diese Zweifel sind gewachsen, bis ich bereit war zu sterben, als ich glaubte, Kirian endgültig verloren zu haben, weil er sich nicht an mich erinnerte.“ Er blickte rasch hinüber und sah, dass Kirian aufmerksam lauschte, auch wenn er die Augen geschlossen hielt. „Doch diese Zweifel hatte ich bereits nach Irtrawitt mitgenommen, ich war schon vorher bedrückt. Im Palast des Layn habe ich viel zu lange verharrt und gezögert, nicht einmal versucht zu fliehen, weil mir ein solcher Plan unsinnig erschien. Meine Lethargie dort hat mich selbst verwirrt, aber …“
„Aber sie war erklärbar gewesen, nicht wahr?“ Onjerro trat neben Nayamé. „So viel hattet Ihr durchlitten, über die ganzen vergangenen Jahre hinweg, die Reise war voller Strapazen gewesen und dort im Palast wusstet Ihr nicht, wie Ihr weitermachen solltet, ohne entweder Eure Suche oder Eure Familie in Onur zu verraten. Eure Gefährten waren gefallen, Ihr wusstet, dass die Dinge in Onur schlecht standen. Welcher Mann wäre da nicht verzweifelt? Wer sollte sagen, dass Lethargie und Zweifel unangebracht gewesen sein könnten?“
„Ihr macht mir Angst“, flüsterte Lys. „Worauf wollt Ihr hinaus?“
„In den Legenden des Volkes sind die Dreigehörnten bloße Bestien, die im Schatten lauern und jeden fressen, der nicht fest genug an die Götter glaubt oder anderweitig vom rechten Weg abweicht. In unseren Aufzeichnungen hingegen steht geschrieben, dass die Drachen ein uraltes Volk sind, keine Tiere, sondern intelligent wie wir Menschen, uns sogar teilweise überlegen“, erzählte Onjerro mit brennendem Blick. „In keinerlei Hinsicht sind sie so wie wir, oder uns auch nur ähnlich. Die Drachen haben es stets vermieden, uns zu begegnen, darum wissen wir nicht, warum ihr Volk geschwunden ist, oder ob es sich vielleicht an einem Ort versteckt, zu dem wir nicht gelangen können. Der Drache, der die Eisenberge beherrscht, scheint hingegen anders zu denken. Er hat die Tunnel angelegt und erlaubt, dass wir Geweihte ihn benutzen. Warum, wissen wir nicht, nur, dass jeder andere Eindringling getötet wird.“ Er schaute zu Nayamé und nickte ihr zu, damit sie fortfuhr, beinahe, als wäre dies ein gut einstudiertes Schauspiel. Dieser Gedanke war zu erschreckend, um ihn weiter zu verfolgen, darum drängte Lys ihn rasch zur Seite.
„Die alten Lieder singen
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