Die Saat der Finsternis (German Edition)
davon, dass niemand, dem sich der Drache zeigt, danach ungerührt weiterleben konnte. Wen er nicht tötet, in den legt er die Saat der Dunkelheit und erfreut sich an ihrer Blüte.“ Ein erschrockenes Keuchen von Kirian unterbrach die Priesterin, alle blickten zu ihm hinüber. Er hatte die Fäuste geballt, hielt dabei die Augen weiterhin geschlossen. Lys wäre am liebsten zu ihm gegangen, er spürte, dass Kirian ihn brauchte. Doch er fand nicht die Kraft aufzustehen und nicht den Willen, sich Nayamé und Onjerro zu entziehen.
„Auch Euer Gefährte ist ihm also begegnet“, sagte Onjerro. Der Triumph, der für einen Herzschlag in der Stimme des Priesters herauszuhören war, jagte kalte Schauder über Lys’ Rücken.
„Wir sind dem Drachen auf dem Rückweg begegnet, ja. Ich dachte, er würde mich in Stücke reißen, als er zu mir kam und vergeblich nach dem Amulett suchte. Doch er hat mich nur angesehen. Danach fühlte ich mich stärker, allerdings auf eine Art, die falsch schien.“
„Dann kam er zu mir“, flüsterte Kirian. „Ich hatte schon zuvor das Gefühl, dass die Dunkelheit in diesem Tunnel lebendig ist. Er sah mich an und ich spürte seine Gedanken in mir. Er versuchte durch den Bann zu brechen, der mir auferlegt wurde und es gelang ihm. Es fühlte sich an, als würde er mir die Seele aussaugen und nichts als Finsternis zurücklassen.“
Lys musste sich auf die Fingerknöchel beißen, um nicht zu schreien, als er das hörte. Wie sollte er ihm helfen?
„Er ließ von mir ab, als Marjis zu ihm ging“, wisperte Kirian und verstummte.
„Das Kind?“, fragte Onjerro und sah zu Marjis, die sich sofort an Lys’ Schulter zu verbergen versuchte. „Sie ist freiwillig zu ihm gegangen?“
„Sie hat ihn gestreichelt und dabei gelächelt“, sagte Lys. „So verwegen ist sie sonst nie.“
Nayamé strich über Marjis’ Kopf und brachte sie mit sanfter Gewalt dazu, sich ihr zuzuwenden.
„Kein Hauch der Finsternis an ihr“, stellte sie fest, nachdem sie kurz in die dunklen Augen des Mädchens gestarrt hatte.
„Diese Finsternis, was ist das?“, fragte Lys drängend.
„Die Saat der Dunkelheit, oder des Zweifels, wie ich schon sagte.“ Nayamé ließ Marjis los und wich ein Stück zurück. „Der Drache ist kein böses Wesen, nicht in dem Sinne, wie wir es verstehen. Die Lieder singen davon, dass er in die Seele eines Menschen blickt und jeden Zweifel, jede Sorge und Angst betrachtet, die diesen quält. Seine Berührung lässt etwas zurück, was die Saat des Zweifels, die ein jeder von uns in sich trägt, aufgehen lässt. Solange, bis der Mensch daran zugrunde geht, weil die Zweifel ihn hindern, weiter leben zu können.“
„Ein Kind, zumindest ein noch so kleines, kennt keine Zweifel“, fiel Onjerro wieder ein. „Ängste, ja, und ein Sklavenkind wird viel Schmerz, Hunger und Kälte kennen. Aber sie ist noch zu jung, um zu zweifeln. Sie denkt nicht über Gut und Böse, Richtig und Falsch nach. Der Drache konnte keine Dunkelheit über sie bringen.“
„Euch hat er berührt, doch Ihr seid wohl daran gewöhnt, ständig an Euch selbst zu zweifeln und alles zu hinterfragen?“ Nayamé lächelte Lys kühl an. „Es ist zumindest nicht anders zu erklären, wie Ihr in Irtrawitt standhalten konntet, obwohl Euch Schlimmes widerfahren ist.“ Sie wies auf sein Brandmal. Eine Welle des Zorns packte Lys, einen Moment lang war er versucht, auf das Gesicht der Priesterin einzuschlagen. Ihr mitfühlender Ton klang höhnisch in seinen Ohren, und auch ihr Lächeln schien ihm verlogen.
Doch er beherrschte sich, hoffte, dass sich seine Wut nicht nach außen gezeigt hatte. Er war zu schwach, um zu kämpfen, und diese Menschen hatten Marjis, Kirian und ihm das Leben gerettet. Egal, aus welchem Grund dies geschehen sein mochte.
Als er wieder zu Nayamé aufblickte, sah er, dass sie ihn aufmerksam beobachtete.
„Ich konnte keine Spur der Zweifelssaat mehr in Euch erkennen“, sagte sie leise. „Ihr habt sie aus eigener Kraft überwinden können, etwas, was früher einige wenige Male geschehen sein soll.“
„Und wie soll ich das geschafft haben, wenn ich nicht einmal wusste …“, begann Lys. Doch dann erinnerte er sich, wie er im Minenstollen erwacht war, nachdem Kirian ihn davon abgehalten hatte, den Tod über sich hereinbrechen zu lassen. An den Moment, als Kirian ihn bei seinem Namen nannte und später in die Arme schloss, um ihn zu trösten. Da hatten die Zweifel geruht, und danach war von dem Kokon der
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