Die Saat - Ray, F: Saat
das, was der Menschheit gehört.«
»Auf Ellesmere Island gehört es dem Noah’s Arch Trust, oder?«
Wieder Océanes nachsichtiges Lächeln. »Die Saatgutbank, Noah’s Arch, wurde zwar größtenteils vom Noah’s Arch Trust finanziert, doch unterstellt ist die Saatgutbank auch der UNO und Kanada, also weder einem Diktator noch einem Schreckensregime.«
»Warum sind dann Firmen wie Brainstorm und Eastman Black Defense am Trust beteiligt oder die Milward-Foundation?« Tapfer, Camille, mach weiter.
»Warum denn nicht, Camille? Jeder kann sich daran beteiligen! Bob Redfern fühlt sich mit seinem Vermögen verantwortlich, etwas für die Weltgemeinschaft zu tun, und auch ein Ted Marder … will den Frieden bewahren.«
Vor der Erwähnung des Waffenherstellers Ted Marder hat Océane kaum merklich gezögert, stellt Camille fest. »Sie sind erstaunlich, Océane.«
»Sie auch, Camille.« Océanes Blick bleibt länger anCamilles Lippen haften, und Camille spürt einen erregenden Schauder auf ihrem Körper. Ist es die Macht, die Océane verkörpert und die sie erregt? Oder fühlt sie sich einfach gut, weil Océane Rousseau, die Vizedirektorin eines Weltkonzerns, sich mit ihr unterhält?
»Sie könnten viel mehr bewegen, Camille, das sagte ich Ihnen bereits.«
»Die Welt? Wie Sie?«, erwidert Camille.
»Ist es so schlecht, wenn man die Welt bewegen will? Wie sieht Ihre Vision von der Zukunft aus?«
»Dass alle in Frieden leben …«
Océanes Lachen unterbricht sie. »Camille, sind Sie wirklich so naiv? Was schafft denn Frieden? Gleichheit bestimmt nicht. Ungleichheit auch nicht, also auch kein Kapitalismus oder Feudalismus. Und Demokratie? Ich bitte Sie! Glauben Sie, dass jeder einzelne der sieben Milliarden Menschen verantwortungsvoll denken und handeln kann? Vielleicht sind es drei Prozent, das wären immerhin schon zweihundertzehn Millionen Menschen.« Sie schüttelt den Kopf. »Nicht umsonst wird der Ort des ewigen Friedens von den Religionen ins Jenseits verlegt. Ein wenig Frieden schaffen, das lässt sich nur mit genügend Nahrung. Dafür sorgt Edenvalley. Hunger macht aggressiv.«
»Nur bis zu einem gewissen Grad, danach macht Hunger apathisch. Und Sie, wie sieht Ihre Vision von der Zukunft aus, Océane?« Gut gemacht, Camille!
Océanes Blick wird zuerst durchdringend, dann abwesend, als würde sie etwas betrachten, das irgendwo, weit weg, in einer anderen Zeit passiert. »Der Besuch bei Véronique Regnard hat Ihnen nicht gutgetan, Camille.« Sie stellt ihren Teller ab. »Was halten Sie davon, wenn wir unser Gespräch woanders fortsetzen? Wo haben Sie Ihren Mantel?«
»Aber ich muss in zwei Stunden wieder zurück sein.«
»Das ist eine lange Zeit, Camille.«
Während sie Océane mit gemischten Gefühlen zur Garderobe folgt, versucht Camille in der Menge der Gäste Ethan auszumachen, doch sie kann ihn nirgendwo entdecken. Auch Lejeune sieht sie nicht.
20
Ethan dreht sich nach allen Seiten um, doch er kann Camille in der Menge nicht entdecken, auch die Vizedirektorin nicht. Irgendetwas ist los mit Camille. Sie verbirgt etwas vor ihm. Sie spielt nicht mit offenen Karten. Sein Handy vibriert in der Jackett-Tasche. Die Nummer ist unterdrückt, er nimmt dennoch ab.
»Ethan? Hier ist Leon! Danke für deine Nachricht. Ich dachte schon, du bist von der Weltkugel gefallen!«
»Leon, ich …« Er hat keine Zeit für Erklärungen, weiß außerdem gar nicht, was er erklären soll. Dass er ein anderer geworden ist? Dass er nie wieder schreiben wird?
»Ich weiß, deine Frau, es tut mir auch sehr leid, wirklich, es ist schrecklich, aber ich dachte, es täte dir gut, wenn du dich wieder deiner Arbeit widmest. Sie könnte dir helfen … und außerdem geht der Vorschaukatalog in Druck, und wir müssen deshalb dein neues Buch …«
»Es gibt kein neues Buch, Leon.«
Pause. Schweigen am anderen Ende. Dann: »Ethan, ich kann verstehen, dass du im Moment nicht … Aber du hast mir doch auf der Messe deine Idee …«
»Daraus wird nichts.«
»Aber Ethan, wo doch gerade Ein Sommer so erfolgreich … Wir müssen nachlegen, du weißt doch, wie schnell man in dem Geschäft … Ich bitte dich, das Leben geht weiter … Und wenn du nicht diese Geschichte schreiben willst, dann schreib ein Buch über … über Sylvie, über euch, über …«
»Leon, wirklich, ich meine es ernst … Ich muss jetzt auflegen. Mach’s gut, Leon.« Er drückt die rote Taste. Sein Leben, Leon, die Bücher – all das ist so weit weg, als gehörte es
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