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Die Saat

Die Saat

Titel: Die Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillermo Del Toro
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erstickt wird. Das purpurfarbene Band der Chromosphäre, der dünnen obersten Masseschicht der Sonne, loderte für einige kostbare letzte Sekunden auf. Dann war die Sonne verschwunden.
    Totalität.
     
    Kelton Street, Woodside, Queens
     
    Kelly Goodweather konnte kaum glauben, wie schnell sich der Himmel verdunkelte. Gemeinsam mit ihren Nachbarn stand sie auf dem Bürgersteig - dort, wo zu dieser Tageszeit normalerweise die Sonnenseite der Straße war - und starrte durch diese lächerliche Brille mit dem Kartonrahmen, eine Gratis-Beigabe zu den Zweiliterflaschen »Sonnenfinsternis-Limo«, nach oben. Rein verstandesmäßig war ihr klar, was geschah: ein Stück Himmelsmechanik, die mathematisch fixierbare Ausrichtung dreier Körper im All. Trotzdem empfand sie ein an Panik grenzendes Schwindelgefühl. Und den Impuls, wegzulaufen und sich zu verstecken. Als würde der Schatten des Mondes etwas tief in ihrem Inneren berühren. Das Tier, das die Nacht fürchtete ...
     
    Empfanden die anderen ähnlich? Im Augenblick der totalen Sonnenfinsternis waren alle auf der Straße verstummt. Dieses seltsame Licht. Diese Schatten, die sich auf dem Rasen schlängelten und wie wirbelnde Geister die Häuser hinaufkrochen.
    Es war, als würde ein eisiger Wind die Straße hinabfegen, der nicht ein Haar zerzauste, sie aber im Inneren frösteln ließ.
    Dann erblickte Kelly die Korona. Eine schwarze, gesichtslose, ins Gegenteil verkehrte Sonne mit Haar aus weißem Licht, die um das Nichts des Mondes herum auf die Erde hinabstarrte. Ein Totenkopf.
    Bonnie und Donna von nebenan hatten die Arme umeinander gelegt. »Wahnsinn, oder?«, rief Bonnie lächelnd über die Schulter.
    Kelly konnte nichts erwidern. Für sie war das hier keine Sehenswürdigkeit, keine nachmittägliche Unterhaltungsshow; für sie war es eine Art Omen. Und warum auch nicht? Zum Teufel mit allen astronomischen Erklärungen und rationalen Betrachtungen! Gut, vielleicht besaß es keine Bedeutung
per se,
schließlich ging es nur um eine simple Konvergenz der Umlaufbahnen. Aber jedes fühlende Wesen musste doch darin eine wie auch immer geartete Bedeutung erkennen, ob positiv oder negativ, religiös oder psychologisch. Nur weil wir wissen, wie etwas funktioniert, heißt das noch lange nicht, dass wir es auch
verstehen ...
    Die Nachbarn riefen Kelly, die allein vor ihrem Haus stand, zu, dass man die Brillen jetzt absetzen konnte. »Das wirst du dir doch nicht entgehen lassen!«
    Doch Kelly dachte gar nicht daran, die Brille abzusetzen.
    Selbst wenn sie im Fernsehen behaupteten, während der sogenannten »Totalität« bestehe keine Gefahr für die Augen. Im Fernsehen wurde einem ja auch weisgemacht, man werde nicht altern, wenn man teure Cremes und Pillen kaufte.
    Die ganze Straße entlang ertönten Aaahs und Ooohs. Ein wahres Gemeinschaftserlebnis. Die Leute genossen diesen seltenen Moment. Alle bis auf Kelly.
    Was ist nur mit mir los?
    Zum Teil lag es wohl daran, dass sie gerade Eph im Fernsehen gesehen hatte. Er hatte auf dieser Pressekonferenz nicht viel gesagt, aber Kelly hatte an seinem Blick und seinem Tonfall erkannt, dass etwas nicht stimmte, allen Beteuerungen des Gouverneurs und des Bürgermeisters zum Trotz. Irgendetwas war geschehen - etwas, das weit über den plötzlichen, rätselhaften Tod von zweihundertsechs Passagieren eines Transatlantikflugs hinausging.
    Ein Virus? Ein Terrorangriff? Massenselbstmord? Und jetzt auch noch das. Diese Finsternis.
    Kelly wünschte, Zack und Matt wären zu Hause. Bei ihr.
    Sie wünschte, diese Finsternis wäre endlich vorüber. Es war eine Erfahrung, die sie mit Sicherheit kein zweites Mal machen wollte. Durch die Brille blickte sie hinauf zum Mond, der im Zenit seines Triumphes stand, und hatte Angst, die Sonne niemals wiederzusehen.
     
    Yankee Stadium, Bronx
     
    Zack stand auf seinem Sitz. Neben ihm Matt, der die Augen zugekniffen hatte wie ein Autofahrer im Scheinwerferlicht des Gegenverkehrs. Über fünfzigtausend Yankee-Fans mit Yankee-Sonnenfinsternisbrillen - echte Sammlerstücke - auf der Nase waren aufgestanden, hatten die Gesichter zum Himmel gewandt und blickten jetzt zum Mond auf, der das Firmament an diesem für ein Baseballspiel perfekten Nachmittag verdunkelte.
    Alle bis auf Zack Goodweather. Klar, die Sonnenfinsternis war cool, aber jetzt hatte er sie gesehen und richtete daher seine Aufmerksamkeit auf die Spielerbank, versuchte, die einzelnen Spieler der Yankees auszumachen. Dort drüben war Jeter, der die

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