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Die Saat

Die Saat

Titel: Die Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guillermo Del Toro
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Morgen eine ungewöhnliche Zunahme von Neuaufnahmen registriert.
    Zwischen dem Bellevue und dem New York University Medical Center, zwei der weltgrößten Krankenhäuser, lag das vielleicht hässlichste Gebäude Manhattans: der Hauptsitz der New Yorker Gerichtsmedizin, ein unförmiges Rechteck in widerwärtigem Türkisgrün. Während die Leichen aus den Kühllastern entladen und auf Bahren entweder direkt in den Obduktionssaal oder in die Kühlräume im Keller geschoben wurden, ging Dr. Gossett Bennett, einer der vierzehn Mediziner der Dienststelle, kurz vor die Tür. Vom kleinen Park hinter dem Krankenhaus aus konnte man leider weder Mond noch Sonne erkennen - das hohe Gebäude verdeckte die Sicht -, also beobachtete er stattdessen die Beobachter. Den gesamten FDR Drive entlang standen Menschen zwischen stillstehenden Autos. Der East River dahinter war schwarz, ein Fluss aus Teer, in dem sich der tote Himmel spiegelte, und am anderen Ufer war ganz Queens in Dunkelheit gehüllt, bis auf den Widerschein der Korona in einigen nach Westen zeigenden Fenstern. Blitze in der Nacht ...
    Genau so wird der Anfang vom Ende der Welt aussehen,
dachte Gossett Bennett und kehrte in das Gebäude zurück, um bei der Erfassung der Leichen zu helfen.
     
    JFK International Airport
     
    Die Familien der ums Leben gekommenen Passagiere und Besatzungsmitglieder von Flug 753 wurden angehalten, eine Pause von den Formalitäten und dem Rot-Kreuz-Kaffee zu machen und aufs Rollfeld in den abgesperrten Bereich hinter Terminal 3 zu gehen. Und so drängten sich die hohläugigen Trauernden zusammen und betrachteten Arm in Arm die Finsternis - manche lehnten sich in geteiltem Schmerz aneinander, andere weil sie so erschöpft waren, dass sie tatsächlich gestützt werden mussten. In diesem Moment wussten sie noch nicht, dass man sie schon bald in vier Gruppen aufteilen und mit Schulbussen zu den jeweiligen gerichtsmedizinischen Einrichtungen fahren würde. Dort würde man eine Familie nach der anderen in einen Raum führen, ihr ein Foto des Verstorbenen zeigen und sie bitten, den oder die Verwandten anhand der Aufnahme offiziell zu identifizieren. Falls sie ausdrücklich darauf bestanden, die sterblichen Überreste zu sehen, sollte ihnen das ermöglicht werden. Anschließend würde man ihnen Hotelgutscheine für das Airport Sheraton aushändigen, wo ein kostenloses Abendessen auf sie wartete. Die ganze Nacht und am Folgetag würden ihnen Psychologen zur Verfügung stehen, die speziell für derartige Katastrophenfälle geschult waren.
    Doch in diesem Moment starrten sie alle zu der schwarzen Scheibe hinauf, die das Licht aus der Welt zu saugen schien für sie ein Sinnbild ihres Verlusts. Sie empfanden die Finsternis in keinster Weise als außergewöhnlich. Dass der Himmel und ihr Gott von ihrer Verzweiflung kündeten, kam ihnen nur angemessen vor.
    Nora stand etwas abseits der anderen Ermittler vor dem Regis-Air-Wartungshangar und wartete darauf, dass Eph und Jim von der Pressekonferenz zurückkamen. Ihre Augen waren auf das schwarze Loch am Himmel gerichtet, doch in Wirklichkeit erfassten sie nichts Bestimmtes. Sie fühlte sich, wie nie zuvor in ihrem Leben, in etwas verstrickt, das sie nicht begriff. Als hätte ein unbekannter neuer Spieler die Bühne betreten. Der tote Mond verdunkelte die lebendige Sonne, Nacht verdrängte den Tag.
    Plötzlich nahm sie aus den Augenwinkeln heraus einen vorbeihuschenden Schatten wahr - jenen ähnlich, die sich unmittelbar vor der Totalität über die Rollbahn geschlängelt
    hatten. Etwas am äußersten Rand ihres Wahrnehmungsvermögens. Etwas, das dem Wartungshangar wie ein böser Geist entfloh. Etwas, das sie
spürte.
    Doch in dem Sekundenbruchteil, den ihre Pupillen benötigten, um diesem Etwas zu folgen, war es auch schon wieder verschwunden.
    Unterdessen musste Lorenza Ruiz, die Fahrerin des mobilen Flughafen-Gepäckbandes, die sich als Erste dem »toten« Flugzeug genähert hatte, feststellen, dass sie dieses Erlebnis nicht mehr losließ. Sie hatte die ganze Nacht nicht schlafen können, sich unruhig hin und her gewälzt, war schließlich aufgestanden und durch die Wohnung getigert. Selbst ein großes Glas Weißwein konnte sie nicht beruhigen; sie bekam diese Geschichte einfach nicht aus dem Kopf. Als schließlich die Sonne aufging, bemerkte sie, dass sie die ganze Zeit über auf die Uhr gestarrt hatte - sie konnte es kaum erwarten, wieder zur Arbeit zu gehen, wieder zum Flughafen zu fahren. Nicht aus

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