Die Sache mit dem Ich
Fängt alles nicht schlecht an, finde ich und beschließe, die Frage zu stellen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.
»Gestatten: Michael«, sagt Michael Stipe sehr höflich, sehr freundlich, sehr angenehm. »Lassen Sie uns reden. Wo kommen Sie her, hier aus Berlin? Schöne Stadt, ich erinnere mich an einen Sommer vor vielen Jahren, als wir hier spielten, zusammen mit der damals noch unbekannten Band Radiohead, und weil es so heiß war, setzten der Sänger Thom Yorke und ich uns ins Gras, zogen unsere Hemden aus und redeten stundenlang in der Sonne ...«
Stipe und Yorke halbnackt, Jesus Christus! Er schlägt das Thema praktisch vor!
»Sie und Thom Yorke sollen sich ja sehr gut verstehen«, sage ich, aber Stipe hört nicht richtig zu, in ihm gehen andere Gedankengänge vor.
»Sind Sie ein R.E.M. – Fan?« Er sieht mich an, eindringlich – erahnt er meine Absicht? »Gibt es eine Platte, die Ihnen wirklich gut gefällt? Ein Lied? Lesen Sie Bücher?«
»Ich, ähm, mag das Lied ›Nightswimming‹ sehr«, versuche ich beim Motiv der Nacktheit zu bleiben, denn in dem Lied kommen Kleider nur ausgezogen vor.
»Das lieben viele Deutsche«, sagt Stipe. »Ich frage mich immer, warum eigentlich.«
»Es ist dunkel und romantisch und spielt im Wasser, das gefällt den Deutschen«, versuche ich.
Stipe nickt, ist schon wieder woanders. So schnell und wendig, wie er in einer Toilette verschwinden und wieder aus ihr herausschießen kann, springen seine Gedanken. Er redet von den Filmen, die er produziert, von Hollywood und dem Ruhm, der ihm die Schüchternheit genommen hat, von t. A.T.u., die er für ihren Plastikpop schätzt; er spricht davon, dass er in Bildern denkt und darum beim Songschreiben eher filmisch vorgeht und nicht erzählerisch, weshalb die meisten Hörer ihn immer fragen, wovon zum Teufel er eigentlich singe. Stipe sagt nette, gute, schlaue Sachen, er gibt sich Mühe, aber ich kann mich nicht konzentrieren, weil in meinem Kopf eine Stimme ist, die fortwährend schreit: JAJA, ALLES GANZ INTERESSANT, ABER SAGEN SIE MIR DOCH LIEBER: SIND SIE SCHWUL, HERR STIPE ? Stipe sieht mich an, er merkt, dass ich abdrifte.
Ich hole gerade Luft, als Stipe seinen linken Fuß unter dem Tisch hervorzieht, hochhebt und sagt:
»Schauen Sie mal: Wie gefallen Ihnen die?«
»?«
»Die Schuhe! Wie finden Sie sie? Sie sind ganz neu, ich habe sie gerade in dem Berliner Schuhgeschäft Trippy’s gekauft, dem besten, das ich auf der Welt kenne.«
Die Schuhe sind cremeweiß und halbhoch, mit einer dicken Gummisohle. Sie sehen ein bisschen lustig aus, diese Schuhe, wie Entenfüße, allerdings eleganter.
Die Schuhe verwirren mich, lenken mich ab. Ich gratuliere Stipe zu seinen Schuhen und erwähne aus irgendeinem Grund den Musiker Paul Weller, weil der auch gern von seiner Schuhsammlung erzählt.
Stipe sagt: »Ich rede nicht über Paul Weller.«
Ich frage: »Was haben Sie gegen Paul Weller? Er trägt sehr schöne Schuhe, sicher auch keine schlechteren als die, die Sie mir gerade gezeigt haben.«
Stipe sagt: »Bitte! Quälen Sie mich nicht.«
Es bringt mich durcheinander, wie Stipe auf Paul Weller reagiert. Ist Paul Weller schwul? Ist Paul Weller nicht schwul und gerade das ist das Problem? Bin vielleicht ich schwul und weiß es nur nicht? Ja, sind wir am Ende alle schwul? Dieses Schwulsein, es macht mich irre. Ich schwitze, schwitze, schwitze. FRAG IHN! , schreit die Stimme, FRAG IHN, DAMIT DER FLUCH VORBEI IST!
Gut, Stimme, denke ich. Jetzt: »Herr Stipe, es mag eine Frechheit sein, Ihnen diese Frage zu stellen, aber die Welt will es wissen, und ich bin nichts weiter als ein Vertreter dieser Welt, also sagen Sie mir bitte: Sind Sie...«
Die Tür geht auf, ein Mann kommt herein, er sagt: »Michael, du musst los, die anderen warten schon.«
Stipe sagt: »Sorry, die Zeit ist um.« Der Mann schiebt mich aus dem Wohnwagen in den Regen und schließt die Tür.
Sind Sie schwul?, frage ich die Tür.
Ja, sagt die Tür, aber sie sagt auch: Wen interessiert schon, was eine Tür zu solchen Dingen sagt?
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Im Hotel
Meist beginnt es mit dem Vorhang. In Einzelfällen ist es die Tapete oder ein Aschenbecher, aber normalerweise ist es der Vorhang, der anfängt, dich zu hypnotisieren. Fast immer ist er sehr schwer und dick wie eine Panzerwand. Hinter ihm liegt eine fremde Stadt, ein neuer Ort, irgendwas Aufregendes, Leuchtendes vielleicht, aber das siehst du nicht, denn du bist noch gar nicht richtig angekommen. Du bist gefangen
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