Die Sache mit dem Ich
Quatsch), 3. Gerhard Schröder (will nichts sagen und wird nichts sagen), 2. Erich Honecker (könnte was sagen, ist aber leider schon tot). Auf Platz 1: Michael Stipe, 43, Sänger der amerikanischen Poprockband R . E . M ., Weltstar. Ihn zu befragen, behaupten viele Journalisten, bringt nicht viel. Seltsam, denn Stipe ist keineswegs ein uninteressanter Typ, ganz im Gegenteil: Seit über zwanzig Jahren im Geschäft, hat der dünne Mann mit dem rasierten Schädel einen Haufen Hits für seine Band geschrieben, darunter sehr schöne Lieder wie »Losing My Religion«, »The One I Love«, »Man On The Moon«, »Nightswimming«, »Everybody Hurts« und zuletzt »Imitation of Life«. Stipe ist schlau und gebildet, isst kein Fleisch und setzt sich für die Umwelt ein, hat was gegen Krieg und George W . Bush, er fotografiert und produziert nebenbei kleine Underground-Filme, die es sonst nie ins Kino schaffen würden – mit Leuten wie Spike Jonze, Sofia Coppola, Todd Solondz und ein paar Dutzend anderen Talenten. Ansonsten weder Liebesaffären, Drogengeschichten noch sonst ein Dreck. Kein Zweifel, Michael Stipe ist das, was man einen superfeinen, superkorrekten Kerl nennt.
Die Sache ist nur: All das, was Stipe immer hat sagen wollen, hat er schon gesagt, nicht nur mehrfach, sondern mehrmehrfach; und all das, was er nicht sagen will, wird er nicht mehr sagen, niemals, selbst wenn MTV , VIVA , die Bunte, BILD und Gala zusammenlegen, um von Stipe die einzige Frage beantwortet zu bekommen, über die noch Unsicherheit herrscht und über die seit Jahren diskutiert wird, in Intellektuellenkreisen wie im Boulevard:
Sind Sie schwul, Herr Stipe?
Ich habe also ein Problem an diesem Nachmittag, als ich mich zuerst mit der U-Bahn und dann zu Fuß (Taxi zahlt in diesen Tagen keine Sau mehr) in die Berliner Waldbühne aufmache, um Michael Stipe zu treffen. Ich würde ihm gern eine Frage stellen, die neu ist, eine Frage, die ihn interessiert und die mich interessiert, aber mir fällt keine ein. Eine halbe Stunde vor dem Interview mit einem internationalen Superstar ist das etwas, was einen jungen Mann nervös machen kann.
Während ich also Fuß vor Fuß über den feuchten Waldboden setze, auf dem ich mich zu Stipe vorarbeite, kreist in meinem Kopf daher nur die niemals beantwortete Tabufrage, die auch die einzige Frage zu sein scheint, die all die Menschen interessiert, die ich gebeten habe, mit mir über Stipe nachzudenken – meine Freunde, meine Eltern, meinen Steuerberater, meine Putzfrau. Sie alle lieben Stipe und wollen wissen:
Sind Sie schwul, Herr Stipe?
Es ist, ehrlich gesagt, keineswegs eine schlechte Frage: Man könnte sich anhand von ihr ganz vortrefflich darüber unterhalten, wie sehr die sexuelle Ausrichtung eines Menschen seinen Charakter formt/ändert/bestimmt; und würde Stipe sich outen, wäre das bestimmt ein weiterer Schritt vorwärts für die internationale Schwulenbewegung, ein Meilenstein, vergleichbar mit der weltweiten Einführung des Christopher Street Days oder Wowereits »Und das ist auch gut so«. Man könnte die Kindheit durchnehmen und den Ruhm, und stundenlang darüber debattieren, warum dasSchwulsein immer nur dann okay zu sein scheint, wenn es mit Exzentrik und Startum zu tun hat, wenn es sich also über die sogenannte Masse erhebt.
Selbstverständlich wäre die Frage in ihrer Intimität eine Frechheit, aber Journalismus ist per Definition eine Frechheit, eine staatlich garantierte, sogar verlangte Frechheit und in diesen Zeiten angeblich so wichtig wie nie.
Ist es nicht sogar meine Pflicht, zu fragen:
Sind Sie schwul, Herr Stipe?
Darüber denke ich nach, als ich vor dem Catering-Bereich stehe, wo die Leute von R.E.M. , Peter Buck, Bill Berry und eben Michael Stipe, vor ihrem Auftritt noch etwas zu essen bekommen, Schnitzel, Tofuburger und rohe Karotten. Kurz bevor ich zu Stipe in den Wohnwagen gerufen werde, beginnt es zu regnen. Ist das ein Zeichen für irgendwas?
Stipe-Schiebermütze auf dem kleinen Kopf, Fred-Perry-Polohemd und eine Art Postsacksakko am Körper, dazu Cordhose an den dünnen Beinen; überhaupt ist alles an ihm sehr dünn, schmal, feingliedrig – ist agil und schnell, als ich den Wagen betrete, zu agil und schnell für mich, denn bevor ich mich setzen kann, ist er in der Toilette verschwunden und wieder aus ihr zurück, und der Hosenschlitz ist noch gar nicht richtig zu, als Stipe schon ein Zigarillo in der Hand hat und nach Feuer fragt, das ich selbstverständlich dabeihabe.
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