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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fischer
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in einer Welt, in der du auf dem Bett liegst und das Muster eines Vorhangs anstarrst, den vor dir schon viele angestarrt haben. Du bist in einer Zwischenwelt, im Hotelzimmer.
    Keine Ahnung, wie die Ärzte es nennen oder ob sie den Zustand überhaupt kennen. Ich nenne ihn Hotelroom Madness, Hotelzimmerwahn, und jeder, der schon mal länger auf Reisen war, weiß, was ich meine. Es ist der Dämmerzustand, in den man fällt, wenn man nach einem Langstreckenflug ein Taxi zum Hotel nimmt, dort eincheckt und zum ersten Mal, in einer Mischung aus Zeitlupe und Beschleunigung, aus Jetlag und Echtzeit, komplett orientierungslos die Tür aufschließt zu dem Raum, der für die nächsten Tage, Wochen, Monate, das Zuhause sein soll. Und obwohl du mit aller Wahrscheinlichkeit noch nie da warst, weißt du genau, wie es darin aussehen wird: Du weißt, dass der Sanyo-Fernseher mit einem schwarzen Teleskoparm an der Wand befestigt sein wird; du weißt, dass sich in der Minibar genau ein Snickers, ein Nuts, ein Fläschchen Gin und ein Fläschchen Wodka befinden; du weißt, wie oft du dich in deinem Kingsize-Bett drehen kannst (und wirst),bevor du auf dem Teppich landest. Du kennst das Rauchglas, die unbequemen Stühle und den Geruch des Scheuermittels, mit dem das Zimmermädchen alle Spuren desjenigen beseitigt hat, der vor dir hier war, wie bei einem Mord. Hotelzimmer von heute sind Déjà-vu-Maschinen, standardisierte Erfahrungen, wie ein Fishmäc von McDonald’s.
    Und trotzdem ist es jedes Mal wieder anders. Zumindest geht es mir so, auch jetzt, während ich das schreibe, in einer Suite des Hotel Rossiya, einem durchgerotteten Plattenbau in Samara, Westsibirien. Es gibt Männer, die damit angeben, sich an den Vor- und Nachnamen jeder Frau zu erinnern, die sie mal geküsst haben; ich erinnere mich an jedes Hotel, in dem ich mal gewohnt habe. Ich weiß noch, wie verloren ich war, als ich in die verfallene Lobby des Hotel Tokyo in Chicago kam; ich erinnere mich an die Briefe, die ich Natalie aus dem Hotel Sevilla in Havanna schrieb; ich sehe vor mir, wie Til und ich uns in Ciudad del Este vor Angst in die Hose machen, weil Waffenschmuggler vor der Tür des Hotel Americana stehen; und wenn ich daran denke, wie glücklich ich mal im Old Sea Pines Inn auf Cape Cod war, verkrampft sich was in meiner Brust. Hotelgeschichten sind immer zuerst Menschengeschichten; Geschichten von Leben im Transit – in welchem Gebäude sie stattfinden, ist zweitrangig.
    Denn wenn es auch stimmt, dass nach jedem Gast die Betten abgezogen, die Minibar aufgefüllt und das Raumspray rausgeholt wird, so trifft doch eine Sache nicht zu, die immer von Hotelzimmern behauptet wird: dass sie ›anonym‹ seien. Wie könnten sie, wo so viele Leute durch sie hindurchgegangen sind? Gerade der Versuch, alle Spuren des Vormieters wegzuwischen, erinnert umso mehr an ihn. Auch Räume haben ein Gedächtnis. Was ist passiert, hier in der Suite des Rossiya, wo immer noch schwerer kubanischer Tabak in der Luft hängt? Warum sind da Brandflecken auf dem Sofa, was sind das für Abdrücke auf dem Boden? Wie viele Frauen waren hier, und wie viele Männer, waren sie gut zueinander oderhaben sie sich was angetan? Hotelzimmerfragen, die immer lauter werden, je länger du nicht einschlafen kannst, weil du zu Hause nun gerade zu Abend essen würdest.
    Noch weniger ist wahr, dass wir im Hotel zu ›jemand anderem‹ werden, wie oft behauptet wird. Das Gegenteil trifft zu: Wie Kinder, deren Eltern nicht dabei sind, werden wir im Hotel zu denen, die wir eigentlich sind: Menschen im Urzustand, ein wenig verloren, ein wenig unsicher und umso bemühter, in jeder Situation souverän zu wirken. Das Hotelzimmer wirft uns auf uns selbst zurück, so hart und unerbittlich, dass ich, wenn ich eines Tages im Sterben liege und mich ein lebendigerer Mensch fragt, was es war, das mir in der Welt am meisten beigebracht hat, vielleicht antworten werde: »Hotels, mein Sohn. Es gibt nichts, was dir mehr übers Werden und Vergehen erzählt. Sieh zu, dass es möglichst viele sind. Werde darum Handlungsreisender, Schriftsteller, Tourist.« Denn im Grunde treffen sich nur Geister in Hotelzimmern: Die, die gerade angekommen sind, und die, die schon lange abgereist sind.
    Ein paar Sonnenstrahlen wollen jetzt durch den Vorhang, aber sie sind noch sehr schwach. Es sieht kalt aus da draußen, die Luft glitzert scharf und klar wie ein Diamant, aber ich werde trotzdem gleich rausgehen, um mir einen Kaffee zu besorgen,

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